Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 795

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Wurm–Südekum[1] entschied, so bedeutet dies keinesfalls eine Niederlage der Radikalen. Diese haben vielmehr einen schönen Sieg erfochten, indem sie das Interesse für die zwei wichtigen Fragen weckten. Man hat Farbe bekennen müssen. Sie haben gehört, wie ein Gewerkschaftsführer über diese Frage denkt. Wir haben erreicht, was wir erreichen wollten, indem wir die Mehrheit nach der von uns gewünschten Richtung drängten. Zwei große Gewinne konnten wir dabei für uns verzeichnen: erstens die offene klare Aussprache des Gewerkschaftsführers Bauer[2] und zweitens die Schlußrede des Genossen Scheidemann.[3] Es gilt die Ideale des Massenstreiks immer mehr in die Massen hineinzutragen, damit wir endlich einen Parteitag bekommen, der unserer Auffassung zustimmt.[4] Die Debatte über die Steuerfrage stand leider nicht auf der Höhe der Aufgabe. Wurm sollte diese Frage grundsätzlich, Südekum ihre praktische Seite referierend behandeln. Beide waren Redner der Mehrheit; für die Minderheit hatte der Vorstand keine Redner vorgesehen. Wir vertreten nach wie vor den Standpunkt: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen. Leider hat ein großer Teil der radikalen Genossen auf dem Parteitag eine Wandlung durchgemacht, die wir bedauern. Wurm und Kautsky waren 1909 noch unserer Meinung. Das Eintreten der Fraktionsmehrheit für die Besitzsteuern[5] ist ein Anreiz für den Militarismus, immer mehr neue direkte und indirekte Steuern zu fordern. Der Prüfstein in solch wichtigen Fragen sind immer die Prinzipien unseres Programms und die Bestrebungen zum Endziel. Belgien8[6] und Holland9[7] waren in dieser Beziehung eigentlich unsere besten Lehrmeister. In Zukunft werden die Herrschenden immer die

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[1] Zu den Ansichten und zur Resolution Wurm–Südekum zur Steuerfrage siehe ebenda, S. 420 ff., 450 ff., 508 ff.; Die Resolution wurde mit großer Mehrheit angenommen. Damit stellte sich der Parteitag auf die von der Reichstagsfraktion zu den Deckungsvorlagen abgegebene Erklärung und billigte die Zustimmung der Fraktion zu beiden Besitzsteuergesetzen. Siehe ebenda, S. 557.

[2] Gustav Bauer, 2. Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften, referierte unmittelbar nach Rosa Luxemburg. Er bestritt, daß Rosa Luxemburg eine Analyse der Bedingungen des politischen Massenstreiks gegeben habe. Alle Diskussionen zum politischen Massenstreik würden ihn diskreditieren. „Wenn wir der bisherigen Taktik weiter folgen, am Ausbau der Organisation arbeiten, Schritt für Schritt den Feind zurückdrängen, dann kommt der Zeitpunkt, an dem die Erfüllung unserer Wünsche unausbleiblich ist.“ Siehe ebenda, S. 295.

[3] Scheidemann charakterisierte in seinem Schlußwort die Debatte über den Massenstreik als unzeitgemäß, polemisierte gegen die Auffassungen Rosa Luxemburgs und plädierte für die Beibehaltung der seit 40 Jahren altbewährten Taktik. „Wir wollen unser Pulver trocken halten, damit wir in dem Augenblick, wo es ernst wird, tun können, was wir für richtig und notwendig halten.“ Siehe ebenda, S. 334.

[4] Rosa Luxemburg: Über den politischen Massenstreik. Vortrag auf einer internen Sitzung vor Delegierten und ausländischen Gästen des Jenaer Parteitages der deutschen Sozialdemokratie am 19. und 20. September 1913. In: GW, Bd. 7/2, S. 784 ff.; siehe auch dies.: Die Massenstreikresolution des Parteivorstandes. In: GW, Bd. 3, S. 322 ff.; dies.: Nach dem Jenaer Parteitag. In: GW, Bd. 3., S. 343 ff.

[5] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.

[6] Am 14. April 1913 hatte in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht begonnen, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der Belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.

[7] Am 2. Juni 1913 hatten in den Niederlanden Wahlrechts- und Wahlkampfdemonstrationen stattgefunden, die von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) ursprünglich als eintägiger Generalstreik beschlossen worden waren. In Amsterdam nahmen etwa 8000, in Rotterdam 5000, in Leeuwarden 2500, in Arnheim 2000 und in Groningen 1500 Personen an den Aufzügen und am 5. Juni 1913 mehrere Tausende an Abendveranstaltungen in Utrecht u. a. Städten teil. Von einer Arbeitsruhe war nichts zu bemerken. Siehe Vorwärts (Berlin) vom 5. und 20. Juni 1913.