Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 579

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die preußische Freiheit, die preußische Verfassung war eben noch nichts anderes, wie ein Stück Papier. Das Proletariat war nicht stark genug, hatte kein Klassenbewußtsein, kein Programm, um eine Position behaupten zu können. Die Macht wurde so in die Hände der aufkommenden liberalen Bourgeoisie gespielt. Wäre es diesem Bürgertum ernst mit seinem Liberalismus gewesen, dann hätte es damals das Volk bewaffnen müssen, die Junkerregierung mit samt dem König stürzen, die geschlagenen Truppen entwaffnen und die Republik proklamieren müssen. (Sehr richtig!) Damit wäre die preußische Freiheit, und vor allem aber die deutsche Einheit gegeben gewesen. Wenn damals schon mit den kleinen deutschen Potentaten aufgeräumt worden wäre, hätte man die deutsche Einheit nicht als ein Geschenk Bismarcks auf den blutgetränkten Schlachtfeldern Frankreichs annehmen brauchen. Dann hätten wir aber auch nicht den furchtbaren Militarismus, den Klerikalismus und das brutale Polizeiregiment der neudeutschen Ära. (Stürmischer Beifall.) Die Monarchie hat sich in Preußen entwickelt als der persönliche Feind der aufstrebenden Arbeiterklasse. Das konnte und mußte geschehen unter bewußter Mithilfe des Bürgertums. Eine radikale Arbeit forderte schon 1848 Karl Marx in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ von der liberalen Demokratie.[1] Aber derselbe Karl Marx hatte auch recht, wenn er damals schon betonte, daß nicht das entscheidet, was politische Programme fordern, sondern was die realen wirtschaftlichen Interessen gebieten. Und gerade die Bourgeoisie hatte damals bereits begriffen, daß auf wirtschaftlichem Gebiet ihr größerer Feind nicht die reaktionäre Monarchie, sondern das zu Klassenbewußtsein erwachende Proletariat ist. Und diese Erkenntnis hat die deutsche Bourgeoisie gezogen aus den Klassenkämpfen derselben Zeit in Frankreich, wo die Arbeiter bereits als Klassenkämpfer in die Geschichte eintraten.[2] Das Bürgertum verriet die Revolution und machte seinen Frieden mit der Reaktion. Und als diese ihre ganze Kraft wieder gesammelt hatte, da wurde das Parlament auseinandergejagt und damit auch das freiheitliche Wahlrecht aufgehoben. – Die weitere deutsche Geschichte zeigt den unaufhaltsamen Verfall des Bürgertums. Stets hat es alles getan, die Reaktion zu stärken, wo es sie schwächen sollte. Die bürgerliche Anbetung der Gewalt, des Militarismus, entsprang ihrem einzigen Wunsche, die proletarische Kanaille niederzuwerfen. Und darin liegt zugleich das Geheimnis des Niederganges des Bürgertums. Die Dinge haben ihre Logik, wo die Menschen sie nicht haben: Wer so die Gewalt, den Militarismus vergötterte, mußte die Konsequenzen tragen, mußte das heutige fluchwürdige Steuersystem gutheißen und fördern helfen. (Sehr richtig!)

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[1] Gemeint ist vermutlich Karl Marx, Friedrich Engels: Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken. In: Neue Rheinische Zeitung, Nr. 7 vom 7. Juni 1848, in: MEW, Bd. 5, S. 39 ff., wo es S. 40 heißt: „Das radikale Manifest spricht wenigstens die revolutionäre Natur der Nationalversammlung aus. Es nimmt die angemessene revolutionäre Tätigkeit in Anspruch.“ Und S. 42: „…wir verlangen von der sogenannten radikal-demokratischen Partei, den Ausgangspunkt des Kampfes und der revolutionären Bewegung nicht mit ihrem Zielpunkt zu verwechseln.“

[2] Vom 23. bis 25. Juni 1848 hatten sich Pariser Proletarier erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.