Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 580

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Und was will die Episode der gegenwärtigen Vereinigung der drei freisinnigen Gruppen besagen?[1] Sie waren alle in den Sumpf geraten und ihre Vereinigung bedeutet eine Einigung nach rechts. Der geschichtliche Hintergrund dieser Verschmelzung ist die Zeit des tiefsten Falles, der Blockperiode. Und der Block war die Sehnsucht des getretenen Freisinns nach der Regierungsfähigkeit. Für den Block gab das freisinnige Bürgertum sein letztes bißchen Ehre preis. Weltpolitik und skrupellose Niederknüppelung der Sozialdemokratie, das war die bürgerliche Parole bei den Block- und Hottentottenwahlen.[2] Und damit hat der Liberalismus, hat der Freisinn Vorarbeit geleistet für die gegenwärtige schmachvolle Wahlrechtskrise. Man sagt, daß sich in den zwei Lagern, die sich heut gegenüberstehen, auf der einen Seite Zentrum, Konservative und Nationalliberale, und auf der anderen Seite Freisinn und Sozialdemokratie befinden. Das ist ein Trugbild. Betrachtet man die politische Vorgeschichte der preußischen Wahlrechtsfrage, so befindet sich in dem einen Lager nur die Sozialdemokratie. Wenn je das Lassallesche Wort von der einzigen reaktionären Masse zutraf, so in der gegenwärtigen Situation.[3] – Gewiß, man soll die ehrlichen bürgerlichen Wahlrechtsfreunde nicht abstoßen; sie sind uns sehr willkommen. Aber wo sind sie? Ist es der Hottentottenfreisinn, oder der Freisinn von Berlin? Oder ist es der Frankfurter Freisinn, dessen Blatt die Glückwunschsendung bremischer Lehrer an Bebel einen Dummenjungenstreich nannte?[4] Oder ist es etwa der Breslauer Freisinn mit einem Dr. Bender an der Spitze? (Stürmische Zustimmung.) Ehrliche Verbündete sind uns willkommen, nicht aber falsche Freunde.

Parteigenossen! Der Kampf ist ernst. Wir müssen die Kräfte der Gegner prüfen und die eigenen Kräfte kennenlernen. Wir sind im Grunde auf unsere Kraft allein angewiesen. Es handelt sich in diesem Kampfe nicht nur um das preußische, sondern auch um das Reichstagswahlrecht. Die Junker warten nur auf die reife Zeit, die ihnen ein Attentat darauf erlaubt. Was 1895 der Graf Mirbach gegen das Reichstagswahlrecht hetzte,[5] wie er zum gewaltsamen Durchhauen des gordischen Knotens aufforderte, das treiben Leute wie der edle Januschauer[6] unbekümmert weiter. Je ernster die Zeit, je nötiger ist ein Abwägen der Chancen. Haben wir Ursache, unser Alleinsein zu beklagen? Nein und tausendmal nein, denn wir sind Millionen und sind deshalb eine

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[1] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[2] Die Reichstagswahlen, die sog. Hottentottenwahlen, fanden am 25. Januar und am 5. Februar 1907 (Stichwahlen) statt. Sie waren unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow unter besonders heftigen Attacken gegen die Sozialdemokratie, andere oppositionelle Kräfte und mit chauvinistischen Hetzparolen gegen die in Südwestafrika unterdrückten Völker vor sich gegangen. Die deutsche Sozialdemokratie erzielte dennoch die größte Stimmenzahl. Doch obwohl sie 248258 Stimmen mehr als bei den Reichstagswahlen 1903 errang, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[3] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.

[4] Am 21. Februar 1910 wurde der 46jährige Lehrer Wilhelm Holzmeier, der Führer der bremischen Lehrerschaft im Kampf gegen die Schulreaktion, von der Disziplinarkammer aus dem Schuldienst entlassen. Am Abend kamen seine Freunde mit ihm zusammen. Während der Zusammenkunft kam man auf den Gedanken, ein Telegramm an August Bebel zu dessen 70. Geburtstag (22. Februar) abzusenden. Als die Depesche am nächsten Tag in der Bremer Bürger-Zeitung erschien, verurteilte der Senat das Vorgehen als „unverkennbare und gewollte Auflehnung gegen die dienstliche und staatliche Ordnung“. Siehe ebenda, 23. und 25. Februar 1910.

[5] Am 28. März 1895 hatte sich Graf von Mirbach in der Debatte zum Etat im preußischen Herrenhaus für eine Änderung des Reichstagswahlrechtes ausgesprochen.

[6] Der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau hatte am 29. Januar 1910 in der Reichstagsdebatte über den Militäretat gesagt: „Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!“ Stenographische Berichte des Reichstages, XII. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 259, Berlin 1910, S. 898. Gegen diese Provokation kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.