Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 581

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ungeheure Macht, und sind es ganz besonders dann, wenn wir das volle Bewußtsein unserer Macht in uns tragen.

Die Jagows,[1] und wie unsere Feinde heißen mögen, vergessen, daß wir ein Schwert in der Scheide haben, mit dem wir den Knoten noch viel besser durchhauen können. (Stürmischer Beifall.) Die Feinde haben nämlich vergessen, daß der Staat nicht ohne unsere Arbeit existieren kann. (Stürmische Zustimmung.) Stellen Sie sich vor die Situation, daß eines Morgens alle Räder, oder nur die Hälfte, oder nur ein Viertel stille stehen! Dann würde sich sehr rasch herausstellen, daß der Staat wohl ohne die Junker, ohne die Pfaffen, ja auch ohne den Reichskanzler leben könnte, nicht aber ohne die Arbeit und die Arbeiter! (Großer Beifall.)

Aus der Geschichte muß man auch hier lernen. Und wir und die Machthaber können an Belgien und seiner Wahlrechtsbewegung lernen.[2] Dort war das Proletariat durch Klerus und Schnapsflasche aufs tiefste herabgewürdigt. Und selbst dieser niedrigsten Schichten bemächtigte sich tiefster Zorn und der eiserne Wille nach Besserung ihrer Lage. Die belgischen Streiks in den achtziger Jahren waren die Vorboten für größere Klassenkämpfe. Der Beginn der neunziger Jahre sah in rascher Folge die ersten politischen Massenstreiks zur – Erringung eines freiheitlichen Wahlrechts. Und diese Streiks währten solange, bis das Wahlrecht erkämpft war. Opfer gab es in Fülle. Die belgische Armee, die für äußere Kriege nicht verwendet werden darf, schlug dem inneren Feind blutige Schlachten. Gefängnis, Elend und Verfolgungen waren auch hier die üblichen Begleiterscheinungen. Es hat alles nichts geholfen. Das Proletariat ruhte nicht eher, bis die klerikale Regierung zähneknirschend beigab.

Und wie war es in dem Riesenreiche Rußland? Es galt als der einzige Staat, an dem die Stürme der Weltgeschichte wirkungslos vorübergingen, in dem die 136 Millionen Menschen den tiefsten politischen Schlaf schliefen. Und doch erhob sich am 22. Januar 1905 das Proletariat von Petersburg und inszenierte einen Massen-Ausstand, der bald zu einem riesigen Streik über große Teile des Reiches wurde.[3] Diese politi-

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[1] Traugott von Jagow war von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin. Berüchtigt und für sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterklasse kennzeichnend war seine „Bekanntmachung“ vom 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung in Berlin: „Es wird das ‚Recht auf die Straße‘ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, Berlin, 5. Jg. [1910], S. 74.

[2] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[3] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.