Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 582

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schen Streiks erzwangen am 30. Oktober 1905 das Verfassungsmanifest,[1] dessen heutiges Dumawahlgesetz trotz zweimaliger Verschlechterung durch zwei Staatsstreiche noch viel besser ist, wie das preußische Klassenwahlrecht. Allerdings gibt es Leute, die von der russischen Revolution sagen, sie sei erfolglos gewesen. Die Leute irren. Die russischen Kriegsgerichte, die Galgen sind im Gegenteil ein Beweis dafür, daß der Schlaf des russischen Volkes endgültig aufgehört hat. Die forcierte Gewaltherrschaft ist ein Beweis dafür, daß in Rußland der Aufruhr in Permanenz besteht, daß die Revolution nicht tot ist. Der Same ist einmal gesät und auch hier reift unter der Oberfläche der endgültige Sieg des Proletariats heran.

Man sagt, daß wir in Deutschland noch nicht an einen politischen Massenstreik denken können, weil uns so gewaltige Arbeitermassen, namentlich die im Banne des Zentrums befindlichen, fern ständen. Aber dieser Zustand wird nicht ewig dauern. Und wir haben zahlreiche Bestätigungen zu solcher Hoffnung. Wenn diese hochpolitischen Dinge aus den Parlamenten auf die Straße getragen werden, dann dämmern Klassenbewußtsein und Klasseninstinkt auch bei den rückständigsten Elementen. Und wenn es zu einem Angriff auf das Reichstagswahlrecht kommt, dann werden auch die christlichen Arbeiter auf unserer Seite stehen. Die Bergarbeiterbewegungen haben uns schon wiederholt auch den Klasseninstinkt der Christlichen gezeigt.[2] Jetzt stehen sie in der großen Bauarbeiterkrise mit uns Schulter an Schulter,[3] und in Kiel haben bei dem halbtägigen Demonstrationsstreik auch die Hirsch-Dunckerschen mitgetan.[4] Das Proletariat gehört seiner Natur nach zur Sozialdemokratie. Und wenn wir so zusammengeschweißt eine Macht geworden sind, dann können wir mit viel größerem Recht wie manch anderer sagen: „Wehe, wer sich uns in den Weg stellt!“

Ein letztes Mittel drohen unsere Feinde noch an. Die ultima ratio – das Militär, die Kanonen. In Berlin hat man in den letzten Tagen die Artillerie mit großer Munition be-

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[1] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.

[2] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[3] Gegen die Massenaussperrung im Baugewerbe begannen am 15. April 1910 160000 Bauarbeiter den Kampf, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

[4] Gemeint ist der politische Halbtagsstreik von rd. 10000 Arbeitern in Kiel für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen. 80 Prozent der Arbeiter der Kruppschen Werft und 75 Prozent der Arbeiter der Howaldt-Werft waren am 15. März 1910 in den Streik getreten, fanden sich zu Versammlungen im Gewerkschaftshaus und im Englischen Garten zusammen und demonstrierten anschließend gemeinsam mit den Arbeitern der Kaiserlichen Werft, die sich nach Schichtschluß einreihten.