Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 993

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dadurch, daß sie die ganze Tragik der Situation offenbar nicht überblicken, daß sie in ihrem Radikalismus auf halbem Wege stehen bleiben.

Die Sozialdemokratie habe aufgehört, ein Organ des proletarischen Klassenkampfes zu sein, nun müsse man suchen, außerhalb ihrer Fesseln die Fahne des Klassenkampfes zu entrollen: So empfinden die besten Elemente der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Sie bemerken das Wichtigste nicht: Der Klassenkampf muß jetzt eben auch innerhalb der Sozialdemokratie ausgefochten werden. Was alle Proletarier, die in der Partei und in den Gewerkschaften organisiert sind, begreifen lernen müssen, ist, daß die Scheidemann & Co. wie die Legien & Co. mehr und anderes sind, als bloß ungetreue Verwalter der Ämter der Arbeiterbewegung, als Renegaten des internationalen Sozialismus. Sie sind heute – wenn man die objektive Tendenz ihrer Politik in Betracht zieht – nichts anderes, als Vertreter der herrschenden Klassen, es ist der kapitalistische Staat, der jetzt durch die offiziellen Instanzen der Arbeiterbewegung die organisierten Proletariermassen beherrscht. Die offizielle Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften sind Einrichtungen des bürgerlichen Klassenstaates geworden, so gut wie Kirche, Polizei und Gefängnisse, nur mit dem Unterschied, daß dort organisierte Massen des sozialistischen Proletariats durch Täuschung geistig versklavt und korrumpiert werden. Wie nun der Sozialdemokrat keinen Posten des Klassenkampfes preisgeben darf, so auch diesen und vor allem diesen, der jetzt innerhalb der offiziellen Arbeiterbewegung von entscheidender Bedeutung ist.

Freilich ergibt sich auch von demselben Standpunkt die besondere Aufgabe jedes ehrlichen Sozialdemokraten im Rahmen der offiziellen Partei. Diese Aufgabe kann natürlich nicht darin bestehen, die ganze offizielle Lüge von der „Parteieinheit“ mitzumachen und die blutige Komödie des „Instanzenlebens“ zu unterstützen, wie es die Opposition um die Arbeitsgemeinschaft[1] tut, die dadurch gerade der Herrschaft der bürgerlichen Elemente in der Partei in die Hände arbeitet. Die Aufgabe besteht umgekehrt darin, innerhalb der Partei den Klassenkampf gegen die Instanzen zu entfesseln, den Instanzen die proletarischen Massen, den organisatorischen und statutarischen Herrschaftsmitteln jener den Machtkampf dieser entgegenzustellen.

Der Zerfall dessen, was sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, wie auch der Zerfall der offiziellen Internationale ist nur eine Zeitfrage, ist so unvermeidlich ge-

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[1] Im Deutschen Reichstag hatten am 24. März 1916 neben Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten mit 58 gegen 33 Stimmen aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft eine eigene Reichstagsfraktion. In den Vorstand wurde Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann gewählt. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar 1916 aus der Fraktion ausgetreten. Am 31. März 1916 hatte Hugo Haase Karl Liebknecht und Otto Rühle aufgefordert, sich der Arbeitsgemeinschaft anzuschließen. Karl Liebknecht lehnte ab, da die neue Fraktion nicht bereit war, ein revolutionäres Aktionsprogramm anzunehmen und zu Massenaktionen gegen den Krieg aufzurufen.