Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 898

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gebracht hat, und alle unsere jetzigen Siege würden vergeblich sein, wenn Frankreichs Angriffskraft nicht geschwächt, Deutschlands Verteidigungsfähigkeit nicht gestärkt würde. Das deutsche Volk hat ein Recht, dies zu verlangen.“[1] Das sichere Mittel dazu sollte die Gebietsabtretung Frankreichs sein, – „im Interesse des Weltfriedens“[2] natürlich, – Bismarcks Wille geschah. Frankreich wurde durch Kontribution und Landesabtretung geschwächt, Deutschland auf seine Kosten gestärkt. Das Ergebnis war nicht „der Weltfriede“, sondern der Dreibund, der Zweibund,[3] Militärvorlagen auf Militärvorlagen, Flottenvorlagen auf Flottenvorlagen, „bewaffneter Friede“, d. h. Herrschaft des Säbels über Europa während 44 Jahren und zum Schluß – der heutige Weltkrieg.

Die Methode der Stärkung der einen Großmacht durch die Schwächung einer anderen hat noch niemals Frieden gesichert, sie ist stets Ausgangspunkt neuer Rüstungen gewesen. Heute mehr als je. Vor 44 Jahren trieben die europäischen Großstaaten kontinentale Politik. Deutschland hatte noch gar keine Kolonien und fast keine Flotte. Frankreich besaß nur erst Algier. Rußland begann erst um jene Zeit in Zentralasien Fuß zu fassen. England allein übte unbestrittene Herrschaft in allen Weltmeeren aus. Seit den 80er Jahren haben Frankreich, Deutschland, Italien, Rußland um die Wette Kolonialerwerbungen gemacht. Damit sind ihre Gegensätze ins Ungeheure gewachsen. Heute wäre das Bismarcksche Rezept „im Interesse des Weltfriedens“, auf das Gebiet der Kolonialpolitik angewendet, die Grundsteinlegung zu neuen unberechenbaren Konflikten, Feindschaften und Rivalitäten, zu einer neuen Spirale des Rüstungswahnsinns – ins Unermeßliche. Noch in einer Beziehung birgt der Schoß der nächsten Zukunft Gefahren und Schrecken für den Weltfrieden. Der Weltkrieg dauert kaum einen Monat, und schon hat er die internationalen Verhältnisse Europas erschüttert: Er hat mit der Existenzfähigkeit neutraler Staaten aufgeräumt. Der „Kleinbetrieb“ ist auch auf dem Gebiete der Staatenbildung dem Tode geweiht. Der schüchterne Kranz der kleinen formell oder praktisch neutralen Staatswesen, der sich von der Schweiz über Luxemburg nach Belgien, Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen mitten durch das waffenstarrende Europa wand, ist durch die ersten Ereignisse des Krieges dem historischen Welken preisgegeben. Schon die letzten paar Jahre brachten die seltsame Kunde von eiligen Rüstungen und militärischer Reorganisation jener kleinen Staaten. Wird der Ausgang des Krieges die Existenzmöglichkeit solcher

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[1] Offiziöser Artikel, von Bismarck sanktioniert, Eintrag von Moritz Busch vom 28. August 1870. In: Tagebuchblätter von Moritz Busch. Erster Band. Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870–1871 bis zur Beschießung von Paris, Leipzig 1899, S. 122.

[2] Ebenda, S. 123.

[3] Gemeint sind die militärischen Bündnisse zwischen den europäischen Mächten zu kolonial- bzw. weltpolitischen Zwecken, der französisch-russische Zweiverband von 1892, der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien seit 1882/83; und 1904 entstand schließlich zwischen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale, die sich 1907 mit Rußland zur Triple-Entente erweiterte.