Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 895

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/895

spricht von der bedrängten Lage des französischen Heeres die eine Tatsache, daß die Führer unserer französischen Arbeiterpartei Sitz und Amt in der Regierung der Republik angenommen haben. Männer wie Jules Guesde und Marcel Sembat, die auf dem äußersten linken Flügel des französischen Sozialismus standen, die seinerzeit gegen das ministerielle Experiment Millerands[1] all ihre Energie und ihren Einfluß ins Feld führten, treten nicht in ein bürgerliches Ministerium ein, wenn nicht alles: Vaterland, Republik, Unabhängigkeit, Freiheit auf dem Spiele stehen, wenn diese Männer nicht befürchten müssen, daß aus der nationalen Gefahr und Demütigung für die Republik das drohende Gespenst des Cäsarismus, der inneren Reaktion aufsteigen könnte. Der Eintritt Guesdes und Sembats ins Ministerium ist ein lauter Schrei aus tiefster nationaler Not der französischen Republik.[2] Und gerade deshalb, in demselben Maße ist die Teilnahme dieser Männer des glühenden sozialistischen und internationalen Glaubens an der französischen Regierung eine Bürgschaft dafür, daß ein ehrenvoller Friede mit Frankreich möglich ist. Ja, dieselben Männer, denen jeder Revanche-Gedanke grundsätzlich fern ist, die den alten Revanche-Wahn in ihrem Lande mit Zähigkeit und Mut bekämpften, sie werden [als die ersten dafür sorgen, daß das zurückgeworfene, aber nicht gedemütigte Frankreich die dargebotene Hand][3] zum Friedensbund mit Deutschland ergreift. Welche segensreichen Aussichten eröffnet aber ein solcher Friedensbund für die europäische Kultur, für die Zyklopenarbeit der Völker, die in der nächsten Zukunft notwendig sein wird, um den Schutt und die Trümmer wegzuräumen, die der jetzige Krieg hinterläßt, um die blutigen Spuren seines Zuges wegzuwischen, um dem unglücklichen Belgien das Gefühl der Sicherheit und der nationalen Selbständigkeit wiederzugeben, um der russischen Freiheitsbewegung die erschütternden Wirkungen dieser Weltkatastrophe nun wirklich zugute kommen zu

Nächste Seite »



[1] Der Begriff des Ministerialismus bzw. Millerandismus entstand mit dem Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre-Étienne Millerand als Handelsminister in das reaktionäre bürgerliche Kabinett Waldeck-Rousseau, dem er vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 angehörte. Dieser erste praktische Schritt mit sozialreformerischen Vorstellungen über Einflußmöglichkeiten in einer bürgerlichen Regierung führte sowohl in der französischen als auch in der internationalen Arbeiterbewegung zu heftigen Auseinandersetzungen.

[2] Der Eintritt von Jules Guesde und Marcel Sembat in die nach Bordeaux fliehende Regierung Viviani war am 26. August 1914 erfolgt. – Im Oktober 1918 schrieb sie dazu in Die kleinen Lafayette: „Es war die erste gewaltige Springflut des entfesselten Imperialismus, die sie vom Klassenstandpunkt hinweggespült und in eine Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zum Behufe der ‚nationalen Verteidigung‘ hineingestoßen hat.“ Siehe GW, Bd. 4, S. 395.

[3] Die mit [ ] markierten Zeilen sind im Typoskript handschriftlich verdeutlicht.