Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1014

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/1014

Kennen Sie, gnädige Frau, den „Phantasus“ von Arno Holz? Der Anfang lautet:

„Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,

vom Hof her stampfte die Fabrik,

es war die richtige Mietskaserne

mit Flur- und Leiermannsmusik!

Im Keller nistete die Ratte,

parterre gabs Branntwein, Grog und Bier,

und bis ins fünfte Stockwerk hatte

das Vorstadtelend sein Quartier.“[1]

Aber über der gebrochenen Linie dieser Dächer, die alle gen Osten liegen, gibt es jeden Morgen ein Schauspiel, das seit der Erschaffung der Welt das schönste u. erhabenste ist: den Sonnenaufgang.

Spätherbst. ½ 6 Uhr früh. Das Haus schlummert noch – nur eine Sekunde noch in Ruhe, bevor der klirrende, klappernde, schlüsselrasselnde, polternde Lärm von 500 menschlichen Existenzen wie eine ungeduldige Sturzwelle den Damm der Nachtruhe niederreißt u. alle Winkel des Riesengebäudes füllt. Noch eine Sekunde. In diesen letzten Zügen der sterbenden Nacht sehen Sie dort oben auf dem Giebel des Hauses die winzige Silhouette eines Vogels schimmern, u. hören Sie sein süßes Gestammel? Das ist der Star, der jeden Morgen zusammen mit mir auf das große [Auf der Seite oben:] II Schauspiel wartet.

Wohlan, es beginnt! Dort sehen Sie, gnädige Frau, über Timners Essigfabrik, wie sich der dunkelgraue Himmel rosig färbt? Plötzlich schießt von dort ein rosiger Blitz in die Höhe, eine ganze Schar Wölkchen entzündet sich an ihm immer stärker, bis zur brennenden Glut. Der halbe Himmel flammt schon u. schwingt feurige Fackeln. Und in der Mitte, gerade über dem Kamin der Essigfabrik, bricht in der blutroten Flut das erste strahlende Gold leuchtend hervor.

Es ist wie eine Wagnersche Ouvertüre. Erst zirpen die Geigen allein ihre Skala vom höchsten, dünnsten Ton herunter, immer eiliger, immer dringender, – dann greift der große mächtige volle Ton der Oboe mit dem Leitmotiv ein, dann mischen sich Bässe, Flöten, Klarinetten ein, dann dröhnen Pauken, – endlich tutti – das gesamte Orchester braust in die Höhe – ein Triumph, ein Jubel, ein Hymnus! … So spielt und triumphiert und jubelt lautlos das Farbenorchester am Himmel über den düsteren Mauern in der Barnimstraße. Die Sonne, die Sonne steigt auf über Timners Essigfabrik! Heil dir, du alte, ewig junge Sonne, sei mir gegrüßt! Wenn du mir nur hold bleibst, wenn ich dein goldenes Antlitz sehe, was schert mich Gitter und Schloß? Bin ich nicht frei wie jener Vogel am Dachfirst, der dir dankbar zujubelt wie ich? Und

Nächste Seite »



[1] Siehe Arno Holz: Phantasus. Eine Auswahl mit einem Geleitwort von Alfred Döblin, Leipzig 1981, S. 19 f.