Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1015

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/1015

wenn ich vielleicht einmal, in der Feuersbrunst einer russischen Revolution, zum Galgen geführt werde, leuchte Du mir nur auf dem schweren Gang, und ich werde zu meiner letzten Erhöhung heiter lächelnd schreiten, wie zum Hochzeitsschmaus.

7 Uhr. Ich darf schon hinunter in den Hof – bis 10 Uhr ganz allein. Schöne Dame, wollen Sie mir folgen? Hier unten sehen Sie die viereckige einfache Grasfläche, in der Mitte nur eine einzige große Rüster u. an den Seiten ein paar Sträucher. Das ist alles. Doch welcher Reichtum, wenn man näher zusieht!

Hier gleich im tauigen Gras, wenn Sie sich bücken wollen, gnädige Frau! Sehen Sie diese Mengen grüner Kleeblätter? Merken Sie, wie seltsam matt sie schillern – bläulich, rosig, perlmuttgrau. Woher das kommt? Jedes Blättchen ist mit ganz kleinwinzigen Tröpfchen Tau bedeckt, in ihnen bricht sich das schräge Morgenlicht u. gibt den Blättchen den irisierenden Regenbogenschimmer. Haben Sie schon versucht, aus solchen einfachen dreiblättrigen Kleestengeln ein Sträußchen zu binden? In einer kleinen Vase oder im Glas wirken sie reizend. Alle scheinbar ganz gleich u. doch bei näherer Prüfung jedes Blättchen ein wenig anders, wie es auch am Baum in Wirklichkeit nicht zwei ganz gleiche Blätter gibt. Größer u. kleiner, heller u. dunkler, bieten die Kleeblättchen mit ihrem edlen Oval der Form ein mannigfach belebtes Bild. Als ich zum ersten Mal ein solches Sträußchen Kleeblätter der Frau Vorsteherin zum Morgengruß sandte, frug sie nachher interessiert: woher ich’s denn hätte? Die Damen alle haben keine Ahnung, was alles in ihrem eigenen Hof wächst u. gedeiht, u. jedes Mal, wenn ich dort mit bescheidensten Mitteln u. etwas Kunst einen ansehnlichen Strauß zustande brachte, frug man erstaunt: woher? Seitdem sind freilich die Kleesträußchen sehr en vogue gekommen, u. ich sah mit Freuden an manchem Morgen die eine oder die andere der Damen sich selbst im Hofe bücken und eilig eine Handvoll der Dreiblättrigen sammeln …

Nun raffen Sie, gnädige Frau, Ihre Röckchen u. machen wir einen vorsichtigen Schritt ins nasse Gras zu jenen Sträuchern dort. Kennen Sie die Weigelia – den beliebten Zierstrauch Norddeutschlands, mit den üppigen Trauben zierlicher rosiger Glöckchen? Sie duften nicht, erfreuen aber das Auge, und auch das große grüne Laub ist nicht ohne Schönheit. Die obersten jungen Blätter ragen, wie Sie sehen, in schmale Tütchen zusammengerollt in die Höhe. Darf ich Ihnen einen Ast mit solchen Tütchen an der Spitze zu Ihnen hinabbeugen? Blicken Sie, bitte, vorsichtig hinein! Dort drinnen schläft jemand in der Tiefe versteckt: ein rotes Marienkäferchen mit fünf schwarzen Pünktchen auf dem Rücken. In jedem Blatttütchen der Weigelia können Sie um diese Morgenstunde im Herbst ein Marienkäferchen entdecken. Es ist noch zu naß u. zu kalt in der Frühe, u. man pflegt sich, bis die Sonne höher steigt, dem süßen Morgenschlummer zu ergeben…

Husch-husch, lassen wir die Äste behutsam [Auf der Seite oben:] III wieder sich aufrichten u. entfernen wir uns auf Fußspitzen leise, um die kleinen Langschläfer nicht zu stören…

Nächste Seite »