Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1016

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Nun zu dem grünen Kreuzdorn drüben! Wollen Sie hier das dünne braune Ästlein abbrechen? Sie greifen tapfer zu u. fahren erschreckt zurück. Pfui, wie weich und klebrig fühlt sich das an! Das „Ästlein“ krümmt sich nun in der Luft, ärgerlich über die unverhoffte Ruhestörung. Ja, gnädige Frau, verzeihen Sie mir den kleinen Scherz: Es war eine Raupe. Und betrachten Sie, bitte, diesen erstaunlichen Fall von Mimikry, die trotz Darwin u. den anderen ein förmliches Rätsel bleibt. Sie sehen am Kreuzdorn, wie an jedem Strauch, verschiedene Zweige. Die jüngsten sind dünn, zimtbraun, glatt und glänzend. Die älteren dicker, graubraun und stumpf in der Farbe. Und nun das Wunder: An jedem Zweiglein sitzt eine genau in Umfang u. Farbe angepasste Raupe: hier an dem jungen Trieb eine schlanke hellbraune, dort an dem älteren Ast eine ins Graue spielende dicke. Ja, bitte, hier an der Seite finden Sie einen sogenannten „geilen Trieb“, wie er im Herbst auch an schlecht gepflegten Rosenstöcken hervorzuschießen pflegt: ein dicker, weißlich-grüner Ast, der sich plump wie ein Stock über die anderen erhebt reckt. Und wahrhaftig! An diesem sitzt eine entsprechend dicke weißgrüne Raupe, die nur aus nächster Nähe u. für ein gewitzigtes Auge von dem Strauch zu unterscheiden ist.

Was sagen Sie dazu, gnädige Frau? Für ihre eigene Form u. Farbe können die kleinen Viecher freilich nichts, hier ist die große „Natur“, oder das X, das wir so nennen, die Wundertäterin. Aber in der Wahl gerade des zu eigener Tracht passenden Ästleins ohne Spiegel, an das sich jedes Tierchen klammert. Darin liegt doch schon eine Art Unterscheidungsvermögen, ein zielbewußter Täuschungsversuch, der beinahe das Strafgesetzbuch streift und in das Gebiet die Kompetenz Ihres Brüderleins hinüberspielt! … Nicht genug. Auch die ganze Körperhaltung: der spitze Winkel zum Ast, in dem sich jede Raupe als „Nebenästlein“ heftet, die starre unbewegliche Stellung in der Luft: mit dem ganzen Raffinement ist es auf die Täuschung der scharfen Vogelaugen abgesehen, die in der Höhe lauern.

Faßt man eine solche Raupe mit den Fingern, dann zuckt sie ungeduldig, u. über ihren kleinen walzförmigen Körper gleiten rötliche Wellen wie Zornröte; sie sucht sich schnell dem Störenfried zu entziehen u. wieder in ihrer buddhistischen Fakirstellung zu erstarren, die sie für die einzige angenommene u. würdige hält. So lassen wir sie in Ruhe.

Die Sonne ist inzwischen hoch hinauf gestiegen, u. ihre Strahlen treffen schon die kleine Zwergmispel dort an der Außenpforte. Kennen Sie, gnädige Frau, diesen hübschen Zierstrauch mit seinen myrtenähnlichen lederartig glänzenden Blättchen, die an jedem Zweig so gleichmäßig angeordnet sind, daß sie einen fertigen Brautkranz bilden? Wie schön würde sich ein solcher grüner Kranz um Ihr Köpfchen machen, das ich mir im üppigen Schmuck von dunklem Haar denke! Diese Zwergmispel hat aber nicht bloß mein Gefallen erregt: eine große Kreuzspinne hat sie sich zur Residenz erkoren. Sehen Sie hier unten zwischen den Zweigen senkrecht das riesige tadellose frisch geknüpfte Netz? Wie kunstvoll u. bewußt ist es direkt gegen das Son-

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