Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1017

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nenlicht gestellt, damit die leichtsinnig dahinstürmende Fliege, vom Licht geblendet, todsicher in der Schlinge sich verfängt! Wie herrlich klar u. mathematisch genau zeichnet sich das tückische Netz in dem goldig-blauen Duft des Herbstmorgens! Der Lufthauch spielt leicht mit dem schwanken Bau, der sich biegt u. erzittert, u. doch nicht zerreißt, wie eine moderne elastische Hochgebirgsbrücke aus feinstem Stahlgeflecht – ein Wunder der Ingenieurkunst. Dort in der Ecke sitzt zusammengekauert die dickbauchige Kreuzspinne, freut sich ihres Werkes u. wartet zähneklappernd auf ein fettes Frühstück…

Nun es auf Mittag geht, ergreife ich endlich meinen Homer u. „ziehe mich zurück“ in die Zelle. Der gute Homer lag die ganze Zeit geduldig dort auf der Bank. Sie kennen wohl auch die wunderbare Wirkung eines guten Buches, das man in Handweite hat und das man – gar nicht liest. Wie oft suche ich mir zur Nacht ein recht schönes Buch aus, das mich sanft in den Schlaf wiegen soll. Manchmal währt’s lange, bis ich was Richtiges gefunden habe. Dann lege ich’s auf’s Tischchen neben dem Bett u. – rühre es nicht an. Seine Nähe genügt wohl allein. So [Auf der Seite oben:] IV begleitet mich hier die Ilias jeden Morgen auf meinem Spaziergang im Hof, aber weiter als bis zur Schmährede des buckligen Thersites bin ich in diesem Herbst nicht gekommen. Was liegt auch daran? Thersites ist schon lange tot, die Kreuzspinne aber lebt, sie teilt mit mir den kurzen Augenblick, der uns beiden von den Göttern zum Dasein beschieden ist.

Ein Nachmittag im Gefängnis vergeht sehr schnell. Jetzt im Herbst hat schon die Stunde um 4 Uhr deutlich die Färbung des nahenden Sonnenuntergangs. Und gerade diese letzte schöne Stunde des vollen Sonnenlichts wählen sich jeden Tag die Tauben, die drüben auf dem Hause neben der Essigfabrik nisten, zu einem fröhlichen Gesellschaftsflug. Schauen Sie, gnädige Frau, wie sie immer im Kreise hoch um das Haus sich wiegen, wie sie mit Flügeln klatschen und mit dem inneren schneeigen Weiß des Flügels das Sonnenlicht blendend auffangen! Jetzt setzen sie sich für eine Weile alle auf’s Dach – wie ein bunter Strauß großer Magnolien – weiß, braun, stahlblau –, dann heben sie sich wieder wie auf Kommando in die Luft u. machen wieder ein Dutzend Runden – alle zusammen in treuer Schar. Man muß ja den Tag ausnutzen, das süße Sonnenlicht bis auf die Neige kosten. Und wieder u. wieder eine Runde …

Inzwischen erreicht der summende, keuchende, pochende Lärm im Innern des großen Gefängnisses seinen Höhepunkt. Es scheint, als ob er sich gegen den Schluß des Tages selbst überschlüge. Das eilige Schlüsselgerassel u. Gepolter wird betäubend. Endlich die erlösende letzte dröhnende Signalglocke: eins – zwei – drei – und wie mit einer großen Schere abgeschnitten, verstummt der Lärm. Der Eintritt der Abendstille ist so jäh u. unvermittelt, daß meine Nerven jedes Mal einen Schock kriegen u. in den Schläfen ein stechender Schmerz zuckt. Doch nun ist Ruhe. Die Brust atmet erleichtert. Der verstummte Hof u. das schweigende Riesenhaus scheinen plötzlich ganz verändert, sinnend u. träumend zu stehen…

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