volle Menschenrecht für sich fordern und verlangen können. Aber sie sind zu anderen Zwecken wohl notweniger, sie so zu entwürdigen und zu gedankenlosen Sklaven zu machen. Nicht zur Verteidigung des eigenen Vaterlandes, sondern damit sie willig ins Feld rücken, um unglückseliges Elend zu verbreiten. Nur solche Soldaten, die sich jede Gerechtigkeit haben austreiben lassen, nur solche werden sich gebrauchen lassen, auf Vater und Mutter zu schießen. Um das Hauptziel des heutigen Militarismus auszusprechen, vergessen wir nicht, man hat etwas anderes im Auge, das ist der innere Feind, vor dem sie zittern. Unsere aufstrebende Bewegung möchte man im Blute ersticken. Was haben wir erlebt bei dem Bergarbeiterstreik in Mansfeld?[1] Sie haben einen Streik gehabt. Nach deutschen Gesetzen ein erlaubtes Mittel des Kampfes. Da rückten Soldaten an mit Maschinengewehren. Soldaten hätten also feuern müssen auf ihre eigenen Brüder. Von welcher Seite wir heute den Militarismus betrachten, dann kommen wir zu dem Schluß, daß es geradezu ein Wahnsinn wäre, ein Verbrechen, wenn wir nicht mit aller Gewalt gegen dieses Übel vorgehen würden. Wir müssen den Leuten das Heft aus der Hand reißen, die das Vaterland mit ihrer eigenen Tasche verwechseln. Da haben wir geschlossen die Pflicht, dafür zu bürgen, daß es nicht mehr zu verbrecherischen Kriegen kommen darf. Deshalb tun wir unsere Pflicht, wenn wir der Masse zurufen, es hängt vor allem von euch ab. Nicht nur von den paar Leuten, die im Krieg zurückstehen, sondern es sind die Millionen der Massen, die darüber zu entscheiden haben. Auch in meinem Urteil steht geschrieben, mit den Ausführungen der Angeklagten könne nicht das Volk gemeint sein, sondern damit seien die Soldaten gemeint. Es stehe davon nichts in der Verfassung, daß das Volk über Krieg und Frieden zu entscheiden habe. Wir sind keine Staatsanwälte und Richter. Wir kennen eine andere Verfassung des Staates. Der Wille und die Macht der deutschen Arbeiterklasse, das ist die Verfassung. Der Staatsanwalt sagte: Die Angeklagte habe gesagt, in ihrer Versammlung, ein Weltkrieg müsse kommen, man solle sich aber einen solchen nicht ruhig gefallen lassen. Eine dahingehende Frage wurde in der Versammlung mit lautem Nein beantwortet. Wenn wir unsere Waffen gegen unsere französischen Brüder erheben müssen, dann tun wir das nicht. Mit dieser Äußerung habe sich die Angeklagte schuldig gemacht gegen Paragraph 110, 111 usw. des Strafgesetzbuches.[2] Der Staatsanwalt mußte zugeben, daß ich nicht vor Soldaten gesprochen habe, aber er sagte sich, es seien eine Masse von Reserve- und Landwehrmännern dabei gewesen. Der Staatsanwalt folgerte daraus, ich hätte vor Soldaten gesagt, du darfst nicht schießen.
Unsere Agitation gegen den Krieg ist nicht so einfach, ist nicht so töricht, wie es sich der Herr Staatsanwalt vorstellt. Wir sind gute Landwirte, daß wir wissen, daß man die Saat im Frühjahr einsät. Wir bearbeiten die Köpfe der Massen schon früher. Wir klären die Massen auf in Versammlungen und sagen ihnen, ihr begeht ein Ver-
[1] Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren gestreikt. Um die Streikfront zu brechen und die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen, forderten die Unternehmer Militär an. In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1909 waren daraufhin einige Kompanien Infanterie in das Streikgebiet einmarschiert. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden.
[2] Am 20. Februar 1914 war von der 1. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg durchgeführt worden, weil sie in zwei Versammlungen – in Fechenheim und in Bockenheim im September 1913 – zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und die Arbeiter aufgefordert hatte, im Falle eines Krieges nicht auf ihre Klassenbrüder in Frankreich und in anderen Ländern zu schießen. Siehe S. 789 ff. und S. 792 f. Siehe auch Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer am 20. Februar 1914, Buchhandlung Volksstimme, Frankfurt am Main, o. D. [1914]. Rosa Luxemburgs Verteidigungsrede siehe GW, Bd. 3, S. 395 ff.
Das Urteil lautete: „Im Namen des Königs! In der Strafsache gegen Frau Rosalie Luxemburg in Berlin-Südende, Lindenstraße 2, geboren am 25. Dezember 1870 zu Zamos´c´, Bezirk Lublin in Rußland wegen Vergehens gegen § 110 Str.G.B’s, hat die 1. Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Frankfurt a. M. in der Sitzung vom 20. Februar 1914, an welcher teilgenommen haben: Landgerichtsdirektor Heldmann als Vorsitzender, Landgerichtsrat Wurmbach, Valentin, Wagner, Gerichtsassessor Enders, als beisitzende Richter, Staatsanwaltschaftsrat Hoffmann als Beamter der Staatsanwaltschaft, Referendar Hahn als Gerichtsschreiber, für Recht erkannt:
Die Angeklagte wird wegen zweier Vergehen gegen § 110 Str.G.B. zu einer Gefängnisstrafe von 1 – einem – Jahr verurteilt. Sie trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe. Die Angeklagte, die bekannte sozialdemokratische Agitatorin, trat am 25. September 1913 in Fechenheim und am 26. September 1913 in Frankfurt-Bockenheim in öffentlichen Volksversammlungen als Rednerin auf. In beiden Versammlungen, die nach ihren eigenen Angaben von Tausenden besucht waren, sprach sie über das Thema: Die politische Situation und die Aufgabe der Arbeiterschaft.
In der Fechenheimer Versammlung empfahl sie unter Anderem auch das Milizsystem, welches dem heute herrschenden Militärsystem vorzuziehen sei, und forderte, daß den entlassenen Soldaten das Gewehr mit nach Hause gegeben werde, damit sie es im gegebenen Fall gegen den inneren Feind richten könnten’, so bekundete der Zeuge Lenz diese Äußerung, oder ‚damit sie sich im gegebenen Fall‘ – so bekunden die Zeugen Wieland und Sperzel diese Äußerung – ‚überlegen könnten, wer ihr Feind sei‘. Sie sprach dann weiter von der Möglichkeit eines Krieges und äußerte hierbei: ‚Bei einem eventuellen Krieg sollten die Arbeiter es sich überlegen, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, auf ihre Brüder im Feindesland zu schießen. Infolge des allgemeinen Zusammenschlusses der Arbeiter sei es unbedingt durchführbar, im Kriegsfalle ein entschiedenes: Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht, auszusprechen.‘ In dieser Form wird diese Äußerung von dem Zeugen Lenz, welcher sich Notizen während der Rede der Angeklagten gemacht hat, wiedergegeben, und auch der Zeuge Wieland gibt sie in fast der nämlichen Form wieder. Der Zeuge Sperzel, welcher die Versammlung als Polizeibeamter überwacht hat, hat diese Äußerung allerdings nicht gehört. Er gibt an, daß er einen schlechten Platz hatte, von dem aus er nicht die ganze Rede verstehen konnte.
Durch einen in den Frankfurter Nachrichten erschienenen Artikel über diese Fechenheimer Versammlung aufmerksam gemacht besuchten die Redakteure der Frankfurter Warte, die Zeugen Henrici und Eisenträger die Versammlung in Bockenheim am folgenden Tag. Henrici machte sich während der Rede der Angeklagten stenographische Notizen. Auch in dieser Versammlung empfahl die Angeklagte das Milizsystem und äußerte hierbei, jeder entlassene Soldat müsse sein Gewehr mitbekommen und am Küchenschrank hängen haben, wenn die Waffe auch einmal in einer nicht gewünschten Richtung gebraucht werden könne. Nachdem die Angeklagte dann weiter über den Massenstreik und die Wahlrechtsdemonstrationen geredet hatte, erörterte sie die Möglichkeit eines bevorstehenden Weltkrieges und äußerte hierbei wörtlich: ‚Bei einem Kriege fragen wir uns: Werden wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen?‘ Aus der Versammlung ertönten hierauf Zurufe: ‚Niemals‘. Sie fuhr daraufhin fort: ‚Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.‘ Auf diese Äußerungen der Angeklagten folgte sekundenlanger Beifall und sie bildeten nach Ansicht des Zeugen Eisenträger den Höhepunkt des Vortrags.
Die Angeklagte gibt mit einer alsbald zu besprechenden Ausnahme zu, diese, ihr zur Last gelegten Äußerungen getan zu haben. Sie bestreitet aber, sich dadurch strafbar gemacht zu haben und führt aus: Einzelne ihrer Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen, wie sie die Zeugen wiedergegeben hätten, gäben nur ein Zerrbild von dem, was sie gesagt habe und was sie habe sagen wollen und wie auch ihre sozialdemokratischen Hörer ihre Rede aufgefaßt hätten. Sie habe nicht zum Vorgesetztenmord aufgefordert. Denn selbst wenn diese Äußerung so gefallen sei, wie sie die Zeugen bekundeten, so müsse man sich fragen, wann und gegen welche Vorgesetzte sie zum Mord aufgefordert habe. […] Sie habe aber auch die Soldaten nicht aufgefordert, den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht nachzukommen. […] Demnach ist tatsächlich festgestellt, daß die Angeklagte durch zwei selbständige Handlungen 1) am 25. September 1913 zu Fechenheim, 2) am 26. September 1913 zu Frankfurt a. M.-Bockenheim öffentlich vor einer Menschenmenge zum Ungehorsam gegen Gesetze aufgefordert hat. – Vergehen gegen §§ 110.74 St.G.B.- […] Die in § 95 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuchs angedrohten Strafen zeigen, daß das Gesetz den Ungehorsam vor dem Feind, insbesondere die Verweigerung des Gehorsams gegen einen vor dem Feind erteilten Befehl zu den schwersten Verbrechen zählt. Mit Rücksicht hierauf mußte auf eine erhebliche Strafe erkannt werden und es war eine Geldstrafe ausgeschlossen. Wenn an sich auch eine noch höhere Strafe angemessen erschien, so erachtete doch das Gericht, da die Angeklagte als Frau von einer Freiheitsstrafe härter betroffen wird, wie ein Mann für jeden der beiden, gleichliegenden Fälle eine Gefängnisstrafe von neun Monaten für ausreichend und angemessen. Die gemäß § 74 St. G. B. zu bildende Gesamtstrafe wurde auf ein Jahr bemessen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 497 St. P. O.“ Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/76, Bl. 148–158. – Laut Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft, ebenda, Bl. 249, betrugen die Kosten 474,80 M.
Die Rechtsanwälte Dr. Paul Levi und Dr. Kurt Rosenfeld legten gegen das Urteil Revision ein, ebenda, Bl. 159 ff. Die Behandlung der Revision war ursprünglich für den 27. Juni 1914 vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig vorgesehen. Mit Schreiben vom 18. Juni 1914 wurde Rosa Luxemburg davon in Kenntnis gesetzt, daß dieser Termin aufgehoben sei und ihre Revision nunmehr am 22. Oktober 1914 vor derselben Instanz verhandelt werden sollte. In dieser Verhandlung wurde die Revision verworfen, ebenda, Bl. 192 ff. Damit war das Frankfurter Urteil vom 20. Februar 1914 rechtskräftig. – Paragraph 110 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte, daß derjenige, der öffentlich – mündlich oder schriftlich – zum Ungehorsam gegen die Gesetze der herrschenden Ordnung auffordert, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird. Treudeutscher Hochverrat hatte der Vorwärts (Berlin), Nr. 47 vom 17. Februar 1914 seine Mitteilung überschrieben, in der es hieß: „Die in Frankfurt a. M. erscheinende, von dem sattsam bekannten E. Henrici geleitete antisemitische Frankfurter Warte übersendete anonym der Staatsanwaltschaft in Frankfurt a. M. ihren Artikel, überschrieben Aufforderung zum Hochverrat. In diesem wird von der Behörde verlangt, sie solle gegen die Genossin Dr. Luxemburg wegen – Hochverrat einschreiten. Der liege in einer Rede, die die Genossin im September 1913 in Frankfurt gehalten hatte.“ Siehe RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 29. Der Paragraph 110 bestraft nur Aufforderung. Der Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch will diese „Lücke“ dadurch ausfüllen, daß er das Aufreizen dem Auffordern gleichstellt. Begründet wird diese Erweiterung in dem Entwurf damit, „daß gerade die geschicktesten und gefährlichsten Volksaufwiegler die Form der Aufforderung vermeiden und dafür die bisher straflose Anreizung zu wählen verstehen“. Siehe Vorwärts (Berlin), Nr. 51 vom 21. Februar 1914. In: RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 30.