Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 848

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das Volk selbst entscheiden könnte, wann und gegen wen es ins Feld zieht, wenn das Volk selbst ins Feld geht, dann erst kann es heißen: „Lieb Vaterland magst ruhig sein.“

Werte Anwesende! Merkwürdig ist es, daß gerade dieses einzige praktische System nicht nur nicht eingeführt ist, sondern es ist schon ein Kapitalverbrechen, wenn man sich gegen dieses System wendet. Ich habe soeben ausgeführt, wie man das Vaterland am besten verteidigen kann und deshalb werden wir als Vaterlandslose ins Gefängnis geworfen. Noch eine Frage. Ist es denn wirklich nötig, daß die Soldaten mißhandelt werden, wie es in Deutschland auf der Tagesordnung steht?[1] Erinnern Sie sich noch des Falles in Magdeburg, wo der Vorgesetzte den Soldaten zwingt, seine Nase in den Spucknapf zu stecken? Des andern Falles von Neiße, wo es zwei Soldaten vorgezogen haben, sich unter den Zug zu legen? Am 1. Mai hat ein Vertreter der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Reichskanzler eine kleine Anfrage gerichtet, ob es ihm bekannt sei, daß in Straßburg die Mannschaften so überanstrengt wurden, daß zwei Todesfälle vorkamen und daß zwei Selbstmorde als Ursache angesehen werden mußten. Was war? Der Herr Reichskanzler war nicht anwesend. Irgendein säbelrasselnder Generalmajor stellte sich hin und sagte: 1. ist es nicht wahr und 2., merken sie sich das, verweigere ich jede Antwort auf diese Anfrage, denn der Reichstag ist nicht zuständig für die Ausbildung des Militärs. Dafür bewilligt der Reichstag Millionen, dazu wählt das Volk seine Vertreter und dann sagt man, ihr seid nicht zuständig. Nun müssen wir uns fragen, ist es wirklich nötig, eine solche Behandlung der Soldaten? Da steigt mir doch das Licht auf, daß es eigentlich umgekehrt sein müßte. Man müßte in dem Soldaten die Menschenwürde und den Charakter zu heben suchen. Ist das ein Mensch, der seine Nase in einen Spucknapf stecken muß? Ein Mann, dem seine Ehre so heruntergedrückt wird, kann nie das Vaterland mit Lust und Liebe verteidigen. Der bayerische Erlaß gegen die Soldatenmißhandlungen[2] bedeutet weiter nichts, als eine Bestätigung der Mißstände. Es ist bekannt, wenn gegen diese Mißstände mit einem Erlaß aufgeräumt werden könnte, daß sie schon längst beseitigt sein müßten. Es gibt aber andere Mittel. Da will ich die Meinung unseres unvergeßlichen August Bebel anführen. Bebel sagte am 10. März 1893 im Reichstage (diese Äußerung habe ich in jener Versammlung angeführt, für die ich nun bestraft werden soll): Eins steht für mich fest, solche Mißhandlungen, wie sie bei uns vorkommen, sind in der französischen Armee unmöglich. Wenn in der holländischen Kolonialarmee das vorkommt, dann darf der gemeine Mann seinen Vorgesetzten niederschlagen. Das wäre, sagt Bebel, auch in Deutschland das geeignete Mittel, um Soldatenmißhandlungen vorzubeugen.[3] Das einzige Mittel ist eine geistige Hebung von unten! Wer trägt aber am meisten dazu bei, das Volk geistig zu heben, als wir Sozialdemokraten. Menschenmassen, die das

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Notizen zur Prozeßvorbereitung über Soldatenmißhandlungen. In: GW, Bd. 7/2, S. 853 ff.

[2] Gemeint sind die Erlasse der bayerischen Kriegsminister Adolf von Heinleth 1888 und Ritter von Safferling 1891 zur Öffentlichkeit der Militärgerichtsbarkeit in der bayerischen Armee. Siehe die Soldatenmißhandlungen vor dem Bayerischen Landtag. Reden der Abg. v. Vollmar und Grillenberger und des Kriegsministers Frh. v. Asch in den Sitzungen der Abgeordnetenkammer vom 7. und 9. Oktober 1893. (Nach dem amtlichen stenographischen Bericht.), Nürnberg 1893, S. 4.

[3] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VIII. Legislaturperiode. II. Session 1892/93. Dritter Band, Berlin 1893, S. 1569.