Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 847

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die Massen endlich lechzend nach Aufklärung und Bildung drängen, wie wir es noch nie früher in Deutschland erlebt haben. Das Volk hat erkannt, „Wissen ist Macht“ und „Macht ist Wissen“. Sie wollen zur Sonnenhöhe des Kulturlebens emporsteigen. Und in einer solchen Zeit erklärt ihnen ein öffentlicher Vertreter des Staates, nicht die Bildung, nicht die Wissenschaft, sondern die Kasernen und die Pickelhauben, sind der Lebensnerv des Staates. Ich glaube, daß wir aus vollem Herzen den Dank für die Worte aussprechen müssen, die von dem Munde eines solchen Staatsanwalts gesprochen wurden. Was haben wir von einer solchen Gesellschaft zu halten? Sie kann nicht leben, nicht existieren, ohne die Waffen, und wenn diese Waffen zusammengebrochen sind, dann bricht der ganze Staat zusammen. Wenn ein solcher Staat seine Niedertracht zeigt, daß er die lächerliche Lappalie von einem Jahr Gefängnis ausgesprochen hat, so hat er sich selbst das Todesurteil gesprochen. Wer soll dieses Urteil vollstrecken. Der Staatsanwalt fühlt sich berufen, er müsse das Vaterland herausheben. Was meine kleine bescheidene Person anbetrifft, ich fühle mich nicht getroffen. Ich möchte meine Heimat mit keinem preußischen Staatsanwalt vertauschen. (Brausender Beifall.) Aber auch vom politischen Standpunkt aus betrachtet, müssen wir sagen, wenn irgendjemand das Recht hat, den Mund voll zu nehmen mit Vaterlandsliebe, so sind wir Sozialdemokraten die ersten, die das tun können. Was ist das Vaterland? Ist das der Teil der Offiziere, der Staatsanwälte, eine Handvoll Kapitalisten usw. usw.? Das deutsche Vaterland ist die Masse des Volkes. Wenn man uns aber sagt, wir beweisen ja, daß wir sehr schlechte Patrioten seien, weil wir durch unsere Agitation das Vaterland wehrlos zu machen suchen, dann antworten wir, wir erlauben uns als Sozialdemokraten andere Ansichten zu haben darüber, was die Menschheit als Recht ansehen kann. Es entspricht durchaus nicht der Menschenkultur, daß die Völker der Erde wie reißende Bestien zum Sprunge bereit stehen, sich zu zerfleischen, daß man die Massen gegenseitig zur Abschlachtung zwingt. Wir sind der Meinung, daß es der Sitte, daß es dem Fortschritt der Völker entsprechen würde, wenn alle Völker der Erde in Solidarität leben, um gemeinsam das Interesse der Menschheit vorwärtszubringen. Wir wissen, daß solche Zustände heutzutage unmöglich sind, wir sagen das offen; wir wissen, daß diese Zustände nur dann verbessert werden können, wenn in allen Völkern die Ausbeutung des einen Menschen durch den anderen aufgehört hat. Erst wenn wir die Macht in Händen haben, dann wird es vorbei sein mit Kriegen und mit Kasernen. Solange der Kapitalismus herrscht, dürfen wir gar keine Hoffnung haben, mit dem Krieg fertig zu werden. Solange der Kapitalismus herrscht, muß die Macht bewaffnet sein. Wenn es sich aber um nichts anderes handeln würde, als um das Vaterland, so brauchte die herrschende Gesellschaft nichts anderes, als das alte Programm der Sozialdemokratie auszuführen und das ganze Volk wehrfähig zu machen.[1] Dazu bedarf es vor allem, daß dem Volke die Waffen in die eigene Hand gedrückt werden, damit

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[1] Gemeint ist die Forderung im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das vom Erfurter Parteitag 1891 angenommen worden ist, die lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 4.