Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 846

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urteilt. Gleichzeitig habe ich aus Thüringen eine kleine Nachricht gelesen, die eine Fabrikinspektion mitteilte. Dort hat man gefunden, daß drei kleine Kinder von Heimarbeitern durch fortwährendes Einatmen von Quecksilberdämpfen so vergiftet wurden, daß sie zum Verlust der Sprache gekommen sind. Diese Kindermorde sind noch nicht zur Strafe gebracht worden. – Aber dieses ist mindestens zehnmal schlimmer, als so ein Mord, man hat unschuldige Kinder zu Krüppeln gemacht. Nur weil sie nicht als Kinder der Besseren oder als Kinder eines Staatsanwalts zur Welt gekommen sind. Und ich frage Sie, ob diese Gesellschaft, die in dieser Weise jährlich Hunderttausende von Kindern hinmordet, ein Recht auf Anerkennung hat? Und ich frage Sie, ob eine Gesellschaft, die die Stirn hat, eine Mutter – selbst das Opfer der Gesellschaft – zum Tode zu verurteilen, ob diese Gesellschaft nicht selbst den Tod verdient hat? (Tosender Beifall.)

Wir brauchen nur einen Blick in unsere Produktionsverhältnisse zu werfen und die Statistik zeigt uns, daß gegenwärtig 175000 Kinder beschäftigt werden, Kinder, die langsam hingemordet werden im blühendsten Leben, denn diese Gesellschaft muß töten. Nicht genug der Menschenschicksale der Kleinen. Was zeigt uns die Statistik der Erwachsenen? Im Jahre 1912 kamen 140000 Unfälle vor, wovon 10300 tödlich verliefen. Jedes Jahr werden in Deutschland von der Industrie, im Dienst des Kapitals Zehntausende Menschenleben hingemordet. Sie sind zu Opfern des Kapitals geworden und müssen deshalb ihre Knochen lassen. Und so frage ich, kann eine Gesellschaft, die auf diese Weise Zehntausende von Menschenleben hinmordet, erhalten bleiben, von der man sagen muß, es gibt keine größeren Verbrechen, als diese Morde?

Denken wir an den Mord, wie er im Militarismus, im Kriege vorkommt. Im letzten Balkankrieg,[1] wo es sich um nichts anderes handelte als um eine Zerstückelung der Türkei, diesem kurzen Kriege sind 140000 Menschenleben zum Opfer gefallen. Es wird das als selbstverständliche Pflicht des Staates betrachtet. Wenn es eine Handvoll Kapitalisten als nötig erachtet, so ist es eine Pflicht des Vaterlandes, Leben und Menschen auf die Schlachtfelder hinzustellen. Der Staatsanwalt in Frankfurt hat die Wahrheit gesprochen, wenn er ausführte, wer gegen den Menschenmord predigt, der rüttle an den Grundfesten des heutigen Staates. Er begehe ein Attentat auf den heutigen Staat. Wer Augen hat zu sehen und ein Hirn hat, der überlege sich diese Worte. Der Lebensnerv der heutigen Gesellschaft, das ist das mordende Eisen des Militarismus.[2] Wir leben in einer Zeit der Krise, wo Zehntausende und Aberzehntausende Familien nicht wissen, wo oder ob ihre Kinder morgen Speisen haben. Nicht aus Faulheit hungern sie, denn sie wollen arbeiten. Bei einem Überfluß, der Millionen erhalten könnte, müssen Hunderttausende am Hungertuch nagen. Und in einem solchen Zustande erklärt ein Staatsbeamter, da sind die Mittel, um Arbeitsgelegenheit zu schaffen! Nein! Lernen, das ist der Lebensnerv des Staates. Wir sind ja in letzter Zeit in einer Periode, in der

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[1] Gemeint ist der zweite Balkankrieg vom 29. Juni bis 10. August 1913, durch den die internationalen Spannungen verschärft wurden. Das Osmanische Reich hatte sich bei Verhandlungen während des ersten Balkankrieges im Dezember 1912 nicht bereit gezeigt, die Forderung der siegreichen Balkanländer zu erfüllen, auf die Stadt Adrianopel, die von Bulgarien beansprucht wurde, und auf die Inseln im Ägäischen Meer zu verzichten. Daraufhin drohte Rußland, das besonders für Bulgarien eintrat und am Schicksal Adrianopels interessiert war, seine Neutralität aufzugeben, und zog Truppen an der Kaukasusgrenze zusammen. Zur Unterstützung der osmanischen Regierung ließ Deutschland in St. Petersburg erklären, ein militärisches Vorgehen Rußlands gegen das Osmanische Reich werde als Bedrohung des europäischen Friedens betrachtet. Dadurch ermuntert, begann die im Januar 1913 wieder an die Macht gelangte jungtürkische Regierung erneut die Kampfhandlungen, erlitt aber wiederum eine Niederlage.

[2] Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.

Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.