Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 767

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legten einmütig die Arbeit nieder, den russischen Arbeitern ihre Solidarität zu bekunden, als über Petersburg der Kriegszustand verhängt wurde; erhoben sich mit ihren polnischen Brüdern wie ein Mann gegen die blutige Niederwerfung des Moskauer Aufstandes; feierten in wunderbar durchgeführten Generalstreiks das Andenken der am 22. Januar 1905 gefallenen Petersburger Arbeiter[1]; protestierten in sechstägigem Massenstreik gegen die Feldgerichte in Polen; unterstützten im Laufe von 17 Wochen 10000 ausgesperrte Łódźer Arbeiter, denen sie, der Ledige wie der Familienvater 10 bis 30 Prozent ihres Wochenlohnes opferten. Unter Lebensgefahr verbreiteten sie während der Herrschaft der Feldgerichte das polnische sozialdemokratische Zentralorgan, wie ihre deutschen Flugblätter und ihren geliebten Łódźer „Vorwärts“; sie halfen den polnischen Genossen eine Miliz organisieren, als sich das Gerücht verbreitete, die zaristische Regierung beabsichtige, die Solidarität und revolutionäre Energie der Łódźer Arbeiter in einem Pogrom der jüdischen Arbeiter zu ersticken. Wo immer die herrliche Melodie der „Roten Fahne“[2] ertönte, in Fabriken oder auf der Straße, während einer Maifeier oder eines Proteststreiks, immer stimmten Tausende deutscher Arbeiter begeistert ein.

Den deutschen Arbeitern in Łódź fehlt es selbstverständlich nicht an Helden und Märtyrern. Wie sie Seite an Seite mit den polnischen Arbeitern gekämpft haben, so füllen sie gemeinsam mit ihnen die Gefängnisse, bevölkern die Schneefelder Sibiriens. Mit dem Tode und Zwangsarbeit büßen zahlreiche deutsche Arbeiter aus Russisch-Polen ihren „Patriotismus“, ihre Hingabe für die Ideale ihrer Brüder von „drüben“. Diese deutschen Arbeiter kennen nicht all die Namen derer, die sich um das Erwachen des Proletariats unsterbliche Verdienste erworben haben. Sie wissen, wer Lassalle, wer Wilhelm Liebknecht gewesen ist, haben auch von Marx und Engels etwas vernommen, ein Name aber ist es, der von allen gekannt und geliebt wird, ein Name, um den sich zahllose Legenden weben: August Bebel! Die deutschen Arbeiter in Łódź kennen ihn schon aus den Überlieferungen ihrer Eltern, haben Bruchstücke seiner Reden im Reichstage gelesen. Von August Bebel wissen sie, daß er ein Arbeiter, ein Drechsler war, der die deutschen Arbeiter organisierte und zu großen Kämpfen führte. Sie wissen, daß er kein anderes Ziel kannte als die Befreiung der Arbeiter. Vor Bebel zitterten alle Mächtigen der Erde, denn ihnen war bekannt, daß er unbestechlich und unbesiegbar war. Wenn seine Stimme im Reichstag ertönte, wenn er gegen die Kapitalisten und gegen die Regierung loszog, dann jubelten in Deutschland die Arbeiter, während ihre Feinde von lähmendem Schreck befallen wurden. Auf Bebel konnten sich die Arbeiter verlassen. Er war treu wie Gold. Hat er nicht vor vielen Jahren einem Kaiserlichen Minister die Tür gewiesen, als dieser kam, um ihn für 20000 Rubel zu kaufen. „Raus aus meiner ehrlichen Arbeiterstube“, hat er dem Mi-

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[1] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06. Siehe auch S. 978, S. 691, S. 750 und S. 930.

[2] Gemeint ist das Arbeiterlied „Die rote Fahne“, das ursprünglich als ein Lied der Pariser Kommunarden unter dem Titel „Le drapeau rouge“ nach einer Erinnerungskundgebung an die Kommune am 18. März 1877 in Bern entstanden ist. Es wurde rasch populär und in mehrere Sprachen übersetzt. Am meisten verbreitet war die folgende Fassung:

Des Volkes Blut verströmt in Bächen,

und bittre Tränen rinnen drein,

doch kommt der Tag, da wir uns rächen,

:/: dann werden wir die Richter sein! :/:

Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!

Die Fahne trägt des Volkes Grollen

über Zwingburgen stolz himmelan.

Stimmet an den Gesang! Nun, wohlan!

Der Freiheit Morgenrot bricht an.

Rot ist das Tuch, das wir entrollen,

:/: klebt doch des Volkes Blut daran! :/:

Wohl knüpft ihr knechtisch finstern Schergen

vergeblich das zerrißne Seil.

Das Schlechte fault in dumpfen Särgen,

:/: das Gute siegt, der Welt zum Heil! :/:

Stimmet an den Gesang…

Tod Euch, den Henkern, den Despoten!

Die alte Niedertracht zerfällt.

Wir pflügen um den alten Boden

:/: und bauen eine neue Welt. :/:

Stimmet an den Gesang…

Auf Brüder, scharet euch zum Heere,

die Brust vom gleichen Geist durchweht!

Wo ist die Macht, die einem Meere,

:/: die unsrer Sturmflut widersteht? :/:

Stimmet an den Gesang…

Zu dieser Fassung hieß es 1911: „Unbekannt. 1905“. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde ohne Begründung Rosa Luxemburg als Übersetzerin genannt. Nach neuesten Forschungen bleibt es bei der Feststellung von Jósef Kozl/owski, daß man bisher auf kein Zeugnis für die Übersetzung durch Rosa Luxemburg gestoßen sei. Siehe Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste. In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 3, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2007, S. 203 ff, insbesondere S. 203 f. und 213.