Frau Luxemburg ging nun auf den Zolltarif von 1902[1] und die Reichsfinanzreform[2] näher ein, sie hätten eine außerordentliche Steigerung der indirekten Steuern hervorgerufen. Selbst die schweren Massenvergiftungen wurzelten schließlich in der Finanzreform, die den Branntwein so verteuert habe, daß man ihn jetzt mit schädlichen Stoffen vermische. Nicht die Dürre des vorigen Jahres, sondern die Schutzzölle hätten die herrschende Teuerung der Lebensmittel hervorgerufen. Der Zukunftsstaat werde in diesen Zuständen eine Änderung bringen, denn der Sieg des Proletarismus sei sicher. Dann wandte sich die Rednerin gegen die Kolonialpolitik, die für sie keine Förderung, sondern eine Ausbeutung des arbeitenden Volkes bedeute. Sie rufe die Rüstungen zu Wasser und zu Lande hervor. Frau Luxemburg richtete dann scharfe Angriffe gegen den Kaiser und die Regierung und forderte dann schließlich das Proletariat auf, geschlossen zur Wahlurne zu schreiten, damit die Sozialdemokratie den Sieg erringe. Mit- und Nachläufer wolle diese Partei nicht, sondern überzeugungstreue Genossen und Genossinnen. Die Sozialdemokratie werde ihr Endziel trotz aller schweren Zeit, der sie und die Gewerkschaften entgegengingen, doch erreichen. Mächtiger Beifall folgte den zweistündigen Ausführungen der gewandten Agitatorin.
Arnstädter Anzeiger,
Nr. 4 vom 6. Januar 1912.[3]
II
In fast zweistündigen Ausführungen verbreitete sich die Rednerin über ihr Thema, wobei sie zum Teil in sehr krassen Farben malte und an allem, was jetzt die arbeitenden Klassen drückt, die Schuld dem Kapitalismus und der jetzigen Gesellschaftsordnung beimißt. Besonders ausführlich geht sie auf den Militarismus und die Kolonialpolitik ein; das stehende Heer will sie ersetzt sehen durch ein Milizheer. Das Volk brauche keine Kolonialpolitik, die nur ein Machwerk der reaktionären Herrschaft, des Kapitalismus sei. Ferner geht die Vortragende auf den Streik in der Metallindustrie,[4] die Berliner Asylvergiftungen[5] u. a. ein, die sie alle gegen die jetzige Gesellschaftsordnung verwertet. Sie bespricht dann die Zollpolitik der Regierung, durch die die Nahrungsmittel künstlich verteuert würden. Durch die indirekten Steuern würden nur die Arbeiterklassen belastet, nicht auch die besitzenden und deshalb müsse die Beseitigung der indirekten Steuern eine Forderung des Volkes bleiben, ebenso die Einführung einer Vermögens- und Erbschaftssteuer, die jedoch nicht auf
[1] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.
[2] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.
[3] In dem Blatte werden über tausend Männer und Frauen als Versammlungsteilnehmer angegeben.
[4] Die Metallindustriellen Berlins hatten am 30. November 1911 zur Unterdrückung eines Streiks der Former und Gießer 60 Prozent der Berliner Metallarbeiter ausgesperrt. Nach einer Einigung zwischen Gießereiarbeitern und Unternehmern, die zu Zugeständnissen gezwungen waren, wurde am 6. Dezember 1911 die Aussperrung aufgehoben.
[5] Siehe Rosa Luxemburg: Im Asyl. In: GW, Bd. 3, S. 84 ff.