Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 933

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Heer als ihren eigenen Sieg über den verhaßten Absolutismus. Es ist klar, daß diese Stimmung der russischen Arbeiterklasse günstig war und ihren Kampf gegen den Krieg wie gegen das herrschende Regime erleichterte. Ebenso einleuchtend ist es aber, daß die durch den Krieg frühzeitig herbeigeführte revolutionäre Auseinandersetzung mit der Regierung nicht zur erforderlichen Reife gelangen und in den Massen noch keine feste Basis finden konnte.

Die Situation, die der Weltkrieg in Rußland vorfand, erinnert äußerlich an die Situation, die dort vor einem Jahrzehnt geherrscht hat. Aber wie sehr unterscheidet sich die Haltung der einzelnen Klassen zum Kriege von ihrer Haltung zur Zeit des Russisch-Japanischen Krieges. Der klassenbewußte Teil des Proletariats, der aus der harten Schule der Gegenrevolution gereift und gefestigt hervorgegangen ist, ist natürlich in noch stärkerem Maße als vor einem Jahrzehnt ein Gegner des Krieges, ein Feind des Zarismus und der herrschenden Klassen. Er steht aber jetzt einer viel schwierigeren Situation gegenüber wie während des Japanischen Krieges. Die Kriegsereignisse spielen sich jetzt nicht in der fernen und unbekannten Mandschurei, sondern zu einem großen Teil auf russischem Boden, in Polen und im Kaukasus ab. Bei der Bauernschaft und bei einem Teil der Arbeiterklasse ist deshalb die Anschauung verbreitet, man müsse alle Kräfte aufbieten, um den „heimatlichen Boden“ vor der feindlichen Invasion zu schützen. Erschwert schon diese Stimmung einen großzügigen Kampf gegen den Krieg, die revolutionäre Aktion gegen die Regierung, so wird sie durch die Haltung der Bourgeoisie noch weiter gehemmt. Jetzt ist von dem heimlichen „Antipatriotismus“ der russischen Bourgeoisie zur Zeit des Japanischen Krieges keine Spur mehr zu finden. In den verflossenen zehn Jahren hat die russische Bourgeoisie sich als Klasse gefestigt; die oberen Schichten der Bourgeoisie, die Vertreter des Handels- und Industriekapitals, gewinnen mit jedem Jahre immer mehr Einfluß auf die innere und äußere Politik; der großrussische Nationalismus im Innern und der Imperialismus nach außen hin gewinnen in ihren Reihen immer mehr überzeugte Apologeten. Namentlich nach dem Eintritt der Türkei in die Reihe der kriegführenden Staaten[1] erscheint der Krieg in den Augen der russischen Bourgeoisie als eine „Vollendung der historischen Mission“ Rußlands im Nahen Osten, die dem russischen Reiche den Zugang zu den Weltverkehrsstraßen und die ungehinderte wirtschaftliche Entwicklung sichern soll. Hierzu kommt noch die ideologische Verbrämung in Form des Hinweises auf die „Befreiung“ der Polen und Armenier, die von der polnischen und armenischen Bourgeoisie besonders unterstrichen wird. Dies alles verleiht dem rus-

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[1] Am 2. August 1914 hatten das Osmanische Reich und Deutschland ein geheimes Bündnis geschlossen, das das Osmanische Reich an der Seite der Mittelmächte in den Krieg hineinreißen sollte. Vor allem Generalstabschef v. Moltke drängte auf den sofortigen Kriegseintritt des Osmanischen Reiches, die Rußland angreifen sollte. Die osmanische Flotte eröffnete schließlich am 29. Oktober 1914 die Feindseligkeiten durch einen Feuerüberfall auf russische Schwarzmeerhäfen und Schiffe. Daraufhin erklärten Rußland am 3. November 1914 sowie Großbritannien und Frankreich am 5. November 1914 dem Osmanischen Reich den Krieg.