Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 841

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schende Gewalt von unserer Seite zu befürchten glaubt. Sie fühlt, daß die Pyramide ihres Gesellschaftsbaues, die nach oben in eine einzige Spitze ausläuft, wankt und zittert? Und warum? Weil die Basis dieses Baues, die breiten Massen, in Bewegung geraten sind. An Vaterlandsliebe stehen wir dem Frankfurter Staatsanwalt nicht nach. Die Sozialdemokratie hat sogar in ihrem Programm seit Jahrzehnten das einzige Mittel zur wirklichen Wehrhaftmachung des Vaterlandes.[1] Wir sind keine Phantasten, sondern Realpolitiker: So täuschen wir niemanden darüber, daß der Zustand des ewigen Friedens erst dann eintreten kann, wenn der Kapitalismus ausgerottet ist. Solange der Kapitalismus existiert, wollen wir jedoch das Vaterland nicht wehrlos machen. Wir verlangen sogar, daß alle Männer wehrhaft gemacht werden, allerdings nicht in jahrelangem Kasernendienst, sondern durch eine kurze, aber durchaus hinreichende Ausbildungszeit. Wir verlangen daneben, daß die Entscheidung über den Waffengebrauch in der Hand des Volkes bleibt. Erst wenn eine solche Wehr geschaffen ist, wird es in Wahrheit heißen können: Lieb Vaterland magst ruhig sein! …

Die herrschende Klasse betrachtet indessen schon die Propaganda dieser Idee als ein Verbrechen. Das ist der beste Beweis dafür, daß bei dem heutigen System des Militarismus nicht die Verteidigung des Vaterlandes der eigentliche Zweck ist; man wünscht vielmehr Eroberungskriege in anderen Weltteilen führen zu dürfen, um den dortigen Völkern ihr Vaterland zu entreißen.

Wie verträgt es sich mit der Vaterlandsverteidigung, wenn ständig neue Mißhandlungen von Soldaten berichtet werden.[2] Man denke an jenen Unteroffizier in Magdeburg, der seine Untergebenen zwang, den Spucknapf zu lecken; oder an jenen Vorfall in Bautzen, wo ein Soldat, durch Beschimpfungen zum Selbstmordversuch getrieben, eben deshalb wegen Fahnenflucht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Oder man denke an jenen Vorfall in Gleiwitz, wo ein Soldat, der erst krankgemeldet war und dann um Urlaub bat, zur Strafe dafür zwölf bis fünfzehn Mal auf ein Pferd springen mußte, bis er zusammenbrach und starb. Um wirkliche Vaterlandsverteidiger heranzuziehen, müßte man umgekehrt das Ehrgefühl der Soldaten auf alle Weise zu heben und zu stärken suchen, statt es gewaltsam zu ersticken. Aber das heutige System verlangt, das Ehrgefühl der Soldaten völlig abzutöten, damit die Leute willenlose, blinde Sklaven werden, die auch zum niederträchtigsten bereit sind, – bereit, auf Vater und Mutter zu schießen. Das ist es: Gegen den inneren Feind richtet sich die Spitze des deutschen Militarismus. Für das Vaterland, das in der Tasche skrupelloser Unterdrücker Platz findet, geben wir uns aber nicht her.

Kürzlich ist ein Erlaß des bayerischen Kriegsministers bekannt geworden, der sich gegen die Soldatenmißhandlungen richtet.[3] Wenn papierne Erlasse etwas nützten, gäbe es längst keine Mißhandlungen mehr. Immerhin haben solche Erlasse einen

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[1] Gemeint ist die Forderung im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das vom Erfurter Parteitag 1891 angenommen worden ist, die lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 4.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Notizen zur Prozeßvorbereitung über Soldatenmißhandlungen. In: GW, Bd. 7/2, S. 853 ff.

[3] Siehe ebenda, S. 856 f. und S. 866.