Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 829

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vergessen und nicht verraten wird, auch wenn sie im Rock des Königs steckt. Wir verlassen uns auf die moralische Gewalt unserer Ideale, die immer mehr in den Köpfen und Herzen der Millionen Platz greifen. Der beste Kronzeuge für die Macht der Sozialdemokratie ist der Herr Staatsanwalt, denn seine Rede hat gezeigt, daß man da oben bereits zittert vor unserer Macht, es hat sich gezeigt, daß dieser Militarismus das verloren hat, was einzig und allein das Band der Siege und aller Macht ist: den Glauben an sich selbst. Auf jener Seite alle Machtmittel, alle Bajonette, die gefällige Dame Justitia, von der man glaubt, daß sie mit verbundenen Augen richtet, die aber unter ihrer Binde doch noch einen kleinen Spalt findet, um zu sehen, ob es ein roter oder ein anderer Sünder ist. (Große Heiterkeit und Zustimmung.) Auf jener Seite alle Machtmittel des Staates und hier wir Sozialdemokraten, die Waffenlosen, die Wehrlosen, die Verfolgten, die Heimatlosen.

So gestaltet sich dieser Frankfurter Prozeß zu einem Zeugnis der Erfolge, die wir bereits erzielt haben. Wir sind im Kampfe gegen den Militarismus wie im Kampfe um jeden kulturellen Fortschritt heutigen Tages in Deutschland ganz allein auf uns angewiesen, auf jener Seite, im Lager des Militarismus, hat sich jetzt das gesamte Bürgertum zusammengefunden. Wo ist der Liberalismus, der einst auch anders aufzutreten wußte? Jetzt küßt das deutsche Bürgertum den Kürassierstiefel, der ihm in den Nacken getreten wird. Die letzte Militärvorlage[1] hat gezeigt, daß jetzt, wo es sich darum handelt, das deutsche Volk vom Militarismus zu befreien, wir nicht auf die deutsche Bourgeoisie zu rechnen haben, und es ist gut, daß es so gekommen ist. Die Geschichte scheint uns klaren Wein einschenken zu wollen und zu zeigen, daß das Proletariat sich ganz allein auf sich selbst verlassen muß. Der Staatsanwalt hat mir noch daraus einen Strick zu drehen geglaubt, daß er darauf hinwies, daß ich im Zusammenhang mit dem Militarismus auf das Kampfmittel des politischen Massenstreiks hingewiesen hatte. Ich kann hier nur wiederholen, was ich vor den Schranken des Frankfurter Gerichts dem Staatsanwalt geantwortet habe: Jawohl, ich gehöre zu jenen, die den Gedanken des politischen Massenstreiks propagieren, aber auf künstlich veranstaltete Putsche gehen wir nicht aus. Was wir tun, ist bloß, der Masse des Volkes zum Bewußtsein zu bringen, daß die historische Entwicklung selbst früher oder später auch in Deutschland dazu führen muß, daß die große Masse des arbeitenden Volkes es für sich als eine Ehrenpflicht betrachten wird, durch Verweigerung der Arbeit sich seine Rechte zu erkämpfen. In diesem Sinne arbeiteten wir aufklärend unter der Arbeiterschaft, wir sind heute noch diejenigen, die unten sind, und die anderen sind noch oben. Im Schillerschen Drama sagt Wallenstein: „Der Tag ist nahe, und Mars regiert die Stunde.“[2] Das gilt für die heutige Lage; noch regiert der brutale Kriegsgott

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[1] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.

[2] Siehe Friedrich Schiller: Wallenstein-Trilogie, II. Teil: Wallensteins Tod: „Der Tag bricht an, und Mars regiert die Stunde.“