Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 813

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/813

Aber dieses Urteil hat auch noch eine politische Bedeutung. Sie sehen, daß wir seit dem berühmten Liebknechtschen Hochverratsprozeß[1] kein solches Urteil mehr erlebt haben. Damals mußte man sich noch unter die Fittiche des Hochverratsparagraphen flüchten, heute genügt schon der § 110,[2] um auf ein annähernd gleiches Strafmaß zu kommen. Dieses Urteil hat, wie mein Verteidiger Dr. Rosenfeld ganz richtig ausführte, die Reform des Strafgesetzbuches[3] vorweggenommen, das eine ausgesprochene Klassenrichtung gegen die Sozialdemokratie hat. Diese Gerichtspraxis ist ein würdiges Seitenstück zu den fortgesetzten Attentaten auf das Koalitionsrecht und die Verfolgung unserer Presse, über die im letzten Jahre nicht weniger als 60 Monate Gefängnis verhängt wurde. (Sehr richtig!)

Diese Zeichen der immer stärker werdenden Reaktion geben uns die Lehre, daß wir unsere Aufmerksamkeit verdoppeln, und daß wir zum Angriff übergehen müssen, weil wir uns nicht alles gefallen lassen dürfen. (Stürmischer Beifall.)

In dieser Beziehung gibt uns der Prozeß noch eine andere heilsame Lehre, er beweist sich als ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft. Der Staatsanwalt hat die Höhe des Strafmaßes damit begründet, daß er sagte, ich hätte den Lebensnerv des heutigen Staates treffen wollen.[4]

Nächste Seite »



[1] Vom 9. bis 12. Oktober 1907 war auf Betreiben des preußischen Kriegsministers Karl von Einem gegen Karl Liebknecht ein Hochverratsprozeß wegen seines Buches Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung angestrengt worden. Liebknecht wurde zu einundeinhalb Jahren Festung verurteilt, die er in Glatz verbringen mußte.

[2] Paragraph 110 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte, daß derjenige, der öffentlich – mündlich oder schriftlich – zum Ungehorsam gegen die Gesetze der herrschenden Ordnung auffordert, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird. Treudeutscher Hochverrat hatte der Vorwärts (Berlin), Nr. 47 vom 17. Februar 1914 seine Mitteilung überschrieben, in der es hieß: „Die in Frankfurt a. M. erscheinende, von dem sattsam bekannten E. Henrici geleitete antisemitische Frankfurter Warte übersendete anonym der Staatsanwaltschaft in Frankfurt a. M. ihren Artikel, überschrieben Aufforderung zum Hochverrat. In diesem wird von der Behörde verlangt, sie solle gegen die Genossin Dr. Luxemburg wegen – Hochverrat einschreiten. Der liege in einer Rede, die die Genossin im September 1913 in Frankfurt gehalten hatte.“ Siehe RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 29.

[3] Der Paragraph 110 bestraft nur Aufforderung. Der Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch will diese „Lücke“ dadurch ausfüllen, daß er das Aufreizen dem Auffordern gleichstellt. Begründet wird diese Erweiterung in dem Entwurf damit, „daß gerade die geschicktesten und gefährlichsten Volksaufwiegler die Form der Aufforderung vermeiden und dafür die bisher straflose Anreizung zu wählen verstehen“. Siehe Vorwärts (Berlin), Nr. 51 vom 21. Februar 1914. In: RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 30.

[4] Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.

Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.