Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 803

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gramm: Abschaffung des stehenden Heeres, Einführung der Volkswehr.[1] Wenn es dann gilt, das Vaterland zu verteidigen, wird jeder auf dem Posten sein. Erst wenn jeder Volksgenosse selbst die Waffe trägt, nicht auf Grund eines militärischen Zwanges, sondern als freier Mensch und selbstbewußt, wird das Wort seine vollberechtigte Geltung haben: Lieb Vaterland magst ruhig sein! Welcher Feind möchte Deutschland mit Krieg überziehen, wenn er wüßte: ein jeder deutsche Mann wird sein Vaterland mit seiner eigenen Waffe verteidigen. Das Einexerzieren ist, wenn es gilt, bald geschehen, dafür hat uns die Geschichte Beispiele genug gegeben. Aber die Herrschenden denken nicht daran, dem Volke die Miliz zu geben. Ihre Abneigung gegen die Miliz entspringt der Furcht, daß die Waffe einmal in einer nicht gewünschten Richtung abgeschossen werden könnte. (Sehr wahr!)

Die herrschenden Klassen werden an dem Militärsystem zäh festhalten, auch wenn sie aus der eigenen Tasche einen Teil der Kosten dafür aufbringen müssen. Seit dem Chinafeldzug,[2] da die Operettengestalt des Grafen Waldersee nach dem Osten gewandert ist, sind die wichtigsten Entscheidungen hinter dem Rücken des Deutschen Reichstages gefallen. Man hat sich um den Reichstag gar nicht gekümmert. Auch der Vorstoß nach Marokko[3] ist während der Ferien des Reichstages unternommen worden usw. Auch Österreich, als es im Jahre 1908 Bosnien und die Herzegowina annektierte,[4] kümmerte sich den Teufel um die Volksvertretung. Erst zwei Jahre später, als es Millionen brauchte, um die Kosten dieses Abenteuers zu zahlen, machte es der Volksvertretung offiziell Mitteilung. Die überhandnehmende Macht des Militarismus hält gleichen Schritt mit dem Verfall des bürgerlichen Parlamentarismus und Liberalismus.

Sie haben hier in der Fabrikstadt Chemnitz ein unvergleichliches Monstrum von einem Gemeindewahlrecht.[5] Wenn in Chemnitz nur eine Spur liberalen Geistes am Werke wäre, so müßte diesem Elend längst ein Ende gemacht sein. Überall, wohin wir blicken, sehen wir, daß der Liberalismus mit der ärgsten Reaktion verschwistert ist. Unter dem ehernen Rade des Imperialismus liegt die Leiche des Liberalismus vollständig zermalmt am Boden.

Wir wären unverzeihlich leichtsinnige Politiker, wenn wir in unserem Befreiungskampfe irgendwie ernste Hoffnungen auf die Mitwirkung des Liberalismus setzten. Baden, das Musterländle des Liberalismus, hat es uns bei seinen jüngsten Wahlen bewiesen,[6] die uns um eine bittere Erfahrung reicher gemacht haben. Die einzig richtige

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[1] Gemeint ist die Forderung im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das vom Erfurter Parteitag 1891 angenommen worden ist, die lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 4.

[2] 1899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die Armeen von acht Staaten unter Führung des deutschen Generals Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. Gegen die Teilnahme Deutschlands an der Intervention in China hatten z. B. August Bebel und Paul Singer am 19. und 20. November 1900 im Deutschen Reichstag protestiert und die dafür geforderten Mittel abgelehnt. Von Oktober bis Dezember 1900 veröffentlichte die sozialdemokratische Presse sog. Hunnenbriefe, Soldatenbriefe mit Berichten über die Greueltaten des Expeditionskorps in China. Bei der Besichtigung von Truppen hatte Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven eine chauvinistische, die berüchtigte „Hunnenrede“ gehalten, die in den Worten gipfelte: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch Euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“ – Im Protest der deutschen Sozialdemokratie gegen die Grausamkeiten des räuberischen Chinafeldzuges unter dem deutschen General von Waldersee veröffentlichte die sozialdemokratische Presse von Oktober bis Dezember 1900 sog. Hunnenbriefe. In den Soldatenbriefen mit Berichten über die Greueltaten wurde der barbarische Charakter des imperialistischen Kolonialkrieges angeprangert. Bei der Besichtigung von Truppen hatte Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven eine chauvinistische, seine berüchtigte „Hunnenrede“ gehalten, die in den Worten gipfelte: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Namen Deutscher in China auf 1000 Jahre durch Euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“ Siehe Das persönliche Regiment. Reden und sonstige Äußerungen Wilhelm II. Zusammengestellt von W. Schröder, München 1907, S. 41.

[3] Im Frühjahr 1911 hatte die französische Regierung den Versuch unternommen, ihre kolonialen Pläne in Marokko ohne deutsche Beteiligung durchzusetzen. Sie nahm einen Aufstand der Marokkaner in der Umgebung der Hauptstadt Féz zum Anlaß, die Stadt zu besetzen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung als Vorwand für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an frühere Abkommen über Marokko gebunden. Anfang Juli entsandte die deutsche Regierung zwei Kriegsschiffe nach Agadir und beschwor durch diese Provokation die Gefahr eines Weltkrieges herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

[4] Im Oktober 1908 hatte z. B. Österreich-Ungarn die von ihm bisher verwalteten Gebiete Bosnien und Herzegowina annektiert und dadurch das ohnehin gespannte Verhältnis zu Serbien verschärft. Die deutsche Regierung hatte Österreich-Ungarn unterstützt und Rußland zur Anerkennung der Annexion gezwungen. Dieser Gewaltakt führte zur weiteren Isolierung Deutschlands und Österreich-Ungarns, da sich die Ententemächte enger zusammenschlossen. Italien, das sich in einem Geheimabkommen mit Rußland im Oktober 1908 verpflichtet hatte, für Neutralität und Erhaltung des Status quo auf dem Balkan einzutreten und dafür von Rußland freie Hand für die Eroberung von Tripolis und der Cyrenaica erhalten hatte, rückte vom Dreibund ab.

Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung Daily Telegraph ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren in Südafrika am 31. Mai 1902 verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen.

[5] In Chemnitz bestand ein reaktionäres Sechsklassen-Berufswahlrecht zur Kommunalvertretung. Am 7. November 1913 hatten 10000 Einwohner vor dem Rathaus für die Einführung des gleichen und geheimen Wahlrechts demonstriert.

[6] Bei der Wahl in Baden vom 21. Oktober 1913 für die Legislaturperiode 1913 bis 1917 war die Koalition aus Nationalliberalen (NLP), Fortschrittlicher Volkspartei und Sozialdemokraten (SPD), der sogenannte Großblock, zwar erneut Wahlsieger, verlor aber gegenüber der letzten Landtagswahl von 1909 sechs Mandate. Von den Stimmenverlusten war hauptsächlich die SPD betroffen.