Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 804

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/804

Politik der Arbeiterschaft ist die revolutionäre, grundsätzliche Politik des Kampfes gegen die Reaktion, ob sie sich liberal oder konservativ nennt. Keine Politik wird uns Erfolge bringen, wenn wir nicht die Grenzen zwischen der Arbeiterpartei, der Sozialdemokratie, und dem bürgerlichen Mischmasch ziehen. Das haben uns auch die Wahlen in Italien bewiesen.[1] Unsere sozialistischen Endziele müssen uns in der praktischen Politik als Leitstern dienen.

Aus der Betrachtung der wirtschaftlichen und politischen Situation ergibt sich der Schluß, daß wir einer Periode der heftigsten Kämpfe entgegengehen. Wenn man sich nur nüchtern die Lehre der Zeit vor Augen hält und versucht, logische Schlüsse zu ziehen: Eine Katastrophentheorie brauchen wir heute nicht, unsere Zeit ist die Praxis der Katastrophen, ein ununterbrochenes Aufflammen heftigster Kämpfe, die ausgefochten werden müssen. Und die logische Folgerung aus dem ewigen Wettrüsten ist der Weltkrieg, in den wir hineintreiben mit vollen Segeln. Katastrophen auf jedem Gebiete, ob wir sie mögen oder nicht. Es ist nur die Frage: Was haben wir zu tun, um reif zu sein und auf der Höhe der Aufgabe zu stehen. Und die Antwort: Es ist notwendig, daß immer mehr und mehr die großen Massen des männlichen und weiblichen Proletariats aufgeklärt und auf unsere großen Ziele hingewiesen werden. Denn, wie das „Kommunistische Manifest“ sagt: Die Befreiung der arbeitenden Klasse kann nur das Werk der arbeitenden Klasse selbst sein.[2]

Vor wenigen Tagen demonstrierten Sie vor dem Chemnitzer Rathause gegen Ihr schändliches Sechs-Klassen-Wahlunrecht, für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Es war nicht das letzte, sondern das erste Wort, das gesprochen werden mußte. Es ist politische Pflicht, immer mehr Macht und Willen zum Ausdruck zu bringen. Die Frage des preußischen Wahlrechts wird nicht um ein Jota vorwärtsgebracht, wenn nicht die Massen der Arbeiterschaft energisch mit dem festen Willen, sich Gerechtigkeit zu erzwingen, dahinter stehen.

Ohne das Wort von dem Massenstreik auch nur einmal erwähnt zu haben, ist doch am ganzen Abend davon die Rede gewesen. Wir verstehen darunter nichts anderes als die unausbleibliche historische Folge der Kämpfe, die wir täglich zu führen gezwungen sind. Wir sehen gegen uns die gesamte geschlossene Masse der Reaktion. Wir müssen wissen, daß auch politische Entscheidungen herbeigeführt werden können durch die Macht unserer verschränkten Arme. Die Erfahrung soll uns lehren. Man sagt uns, wir dürften nicht „leichtfertig“ aufs Spiel setzen, was die ganze Errun-

Nächste Seite »



[1] Am 26. Oktober 1913 hatten allgemeine Wahlen und am 2. November 1913 Stichwahlen zur Deputiertenkammer Italiens stattgefunden.

[2] Siehe Karl Marx: Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation vom 21. und 27. Oktober 1864. In: MEW, Bd. 16, S. 14, wo es heißt: „In Erwägung, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß…“; Im Zirkularbrief von Karl Marx und Friedrich Engels vom 17./18. September 1879 an [Bebel, Liebknecht, Bracke u. a.] In: MEW, Bd. 19, S. 165, schließlich steht: „Wir haben bei Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“