Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 802

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plünderung des Volkes durch indirekte Steuern nicht mehr ausreicht, um die Opfer für den Moloch Militarismus aufzubringen. Mit dem Anbruch einer neuen Prosperitätsperiode werden die Besitzenden kommen und für die „Opfer“ ihres Wehrbeitrages Kompensationen fordern. Und selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß die gesamten Kosten des Militarismus von den Reichen tatsächlich getragen würden, so müssen wir uns fragen: Haben wir recht, wenn wir den Militarismus nur vom Standpunkte des Geldbeutels betrachten? Wir sind Zeugen der mörderischen Kriege auf dem Balkan.[1] Wer sind diejenigen gewesen, die dort die Kosten getragen haben? Waren das vielleicht die herrschenden Klassen? Und sind die Kugeln weniger grausam und mörderisch, die unsere Arbeitsbrüder in Fetzen schießen, wenn sie von dem Gelde der Reichen bezahlt werden? Und werfen wir einen Blick in unsere deutschen Kasernen zur Friedenszeit, wo Tausende unserer Brüder in ohnmächtigem Zorne unter der Fuchtel der Unteroffiziere stöhnen. Ist es nicht das Volk, das die Soldaten stellt, die arbeitenden Massen, die die Kasernen füllen, oder ist es der Opfersinn der Reichen, der sich auch hier betätigt? Nun abermals die Frage: Wer zahlt die Kosten des Militarismus? Nicht diejenigen, die Geld für die Kanonen geben, sondern die den Kasernenzwang mit allen seinen Auswüchsen am Leibe spüren! Und bedenken wir, welchem Zwecke der Militarismus heute dient. Da begegnen wir der berühmten Phrase: Das Vaterland muß geschützt werden! Es gehört wohl die ganze „vaterlandslose Gesinnung“ der Sozialdemokratie dazu, um diese Redensart als das abzutun, was sie ist, eben als eine Phrase. Wir Sozialdemokraten erlauben uns, über die Vaterlandsverteidigung eine andere Meinung zu haben. Wir glauben nicht daran, daß es notwendig sei, das Vaterland vor feindlichen Angriffen dadurch zu schützen, daß dauernd stehende Riesenheere bis an die Zähne bewaffnet bereit sein müßten. Wir erstreben einen Zustand gegenseitiger Brüderlichkeit und der Solidarität. Dies ist aber erst dann zu erreichen, wenn wir die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen haben. Aus Anlaß der Berner Friedenskonferenz[2] gab es sehr kluge Sozialdemokraten, die zu jubeln begannen: Unsere Friedenspropaganda hat gute Früchte getragen; zwar sind es nur erst wenige, die zu uns stehen, aber es werden wohl, wenn Gott will, noch ein paar mehr werden. Aber die gleichen bürgerlichen Friedensfreunde, hüben wie drüben, haben den neuen Militärvorlagen zugestimmt. Allein die Sozialdemokratie ist grundsätzlich für den Frieden.

Wir wissen, daß Kriege in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich sind. Das einzig wirklich sichre Mittel, um den Frieden zu erhalten, gibt uns unser Parteipro-

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[1] Gemeint sind der erste Balkankrieg (Vom 8. Oktober 1912 bis 30. Mai 1913 führten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro Krieg gegen das Osmanische Reich, der mit dessen Niederlage endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg gegen die osmanische Fremdherrschaft auf dem Balkan. Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdete er den Frieden in Europa.) und der zweite Balkankrieg vom 29. Juni bis 10. August 1913, durch die die internationalen Spannungen verschärft wurden. Das Osmanische Reich hatte sich bei Verhandlungen während des ersten Balkankrieges im Dezember 1912 nicht bereit gezeigt, die Forderung der siegreichen Balkanländer zu erfüllen, auf die Stadt Adrianopel, die von Bulgarien beansprucht wurde, und auf die Inseln im Ägäischen Meer zu verzichten. Daraufhin drohte Rußland, das besonders für Bulgarien eintrat und am Schicksal Adrianopels interessiert war, seine Neutralität aufzugeben, und zog Truppen an der Kaukasusgrenze zusammen. Zur Unterstützung der osmanischen Regierung ließ Deutschland in St. Petersburg erklären, ein militärisches Vorgehen Rußlands gegen das Osmanische Reich werde als Bedrohung des europäischen Friedens betrachtet. Dadurch ermuntert, begann die im Januar 1913 wieder an die Macht gelangte jungtürkische Regierung erneut die Kampfhandlungen, erlitt aber wiederum eine Niederlage.

[2] Am 11. Mai 1913 hatte in Bern eine Verständigungskonferenz von 156 deutschen und französischen Parlamentariern stattgefunden, auf der die deutsche Sozialdemokratie durch 24 Abgeordnete vertreten war. Einstimmig war eine Resolution angenommen worden, die den Chauvinismus verurteilte und erklärte, daß die überwiegende Mehrheit des deutschen wie des französischen Volkes den Frieden will und die Beilegung der internationalen Konflikte durch Schiedsgerichte fordert.