Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 780

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ben noch mehr bestärkt. Nach zwanzig Jahren wiederholt Bebel in der obersten Vertretung der Partei, auf dem Parteitag in Erfurt, mit seiner hellen metallischen Stimme dieselbe „Prophezeiung“: „Ja, ich bin überzeugt, die Verwirklichung unserer letzten Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden.“[1] Das Protokoll des Erfurter Parteitags verzeichnet bei diesen Worten Bebels: „Bewegung“. Wie ein warmer elektrisierender Strom des Lebens, des Idealismus, der tatenfreudigen Sicherheit ging es aus Bebels Munde durch die Versammlung. Es wurde Bebel später mit der Schneiderelle in der Hand haarklein nachgewiesen, wie sehr er sich wiederum in dem Augenmaß des Weges bis zum Eintritt in die sozialistische Pforte verrechnet hatte. Aber die aufgeklärten proletarischen Massen draußen im Lande, in Deutschland wie anderwärts, haben ihn auch diesmal verstanden: Auch durch sie ging eine „Bewegung“, ein Strom belebenden Glaubens und der Sicherheit, nicht jener Sicherheit eines Wucherers, der mit seinem Schuldschein in den dürren Fingern auf den Verfallstermin des Versprechens mit Hartnäckigkeit pocht, sondern jener Sicherheit des revolutionären Idealismus, der zu allen Opfern und Mühen, ohne sie zu zählen und zu messen, bereit ist, wenn er nur das leuchtende Endziel unverrückbar in jedem Moment vor den Augen sieht.

Dank diesem festen sozialistischen Glauben, einem Glauben, der nicht Religion, nicht Herzenssache, sondern die reife Frucht einer in gründlichen Studien gewonnenen wissenschaftlichen Überzeugung war, vermochte Bebel in allen Wechselfällen der Parteigeschichte ihr wegweisender Kompaß zu sein.

Das Sozialistengesetz kam und mit ihm eine Periode der Verwirrung in der Organisation und in den Geistern. Manche von den überlegenen Rechenmeistern, die sich von der Schwäche des Prophezeiens freihielten und nachmals die Prophetengabe Bebels belächeln sollten, verloren damals die Orientierung. In der noch jungen und schwachen, durch den brutalen Anprall der Reaktion im ersten Augenblick zerschmetterten Partei machte sich eine gefährliche Strömung geltend, die den schroffen revolutionären Klassenstandpunkt am liebsten preisgeben und an seiner Stelle allerlei verschwommenen und verwässerten Bourgeoissozialismus predigen wollte. An der Spitze derjenigen, die gegen diese Gefahr sofort energisch Front machten, stand abermals Bebel. „Bebel ist von den Führern derjenige, der sich auch in dieser Sache am besten benommen“, schrieb im Jahre 1882 Friedrich Engels an Sorge. „Diese Leute“ – schrieb er weiter über die Viereck und andere[2] – „möchten um jeden Preis das Sozialistengesetz durch Milde und Sanftmut, Kriecherei und Zahmheit wegbetteln, weil es mit ihrem literarischen Erwerb kurzen Prozeß macht.“[3] Dem Kriechen und der

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[1] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 172.

[2] Louis Viereck, Wilhelm Blos, Bruno Geiser und Karl Höchberg hatten in ihrer publizistischen Tätigkeit den Verzicht der Sozialdemokratie auf ihren proletarischen Klassencharakter und ihre Umwandlung in eine kleinbürgerliche Reformpartei gefordert. Auf dem Parteitag in St. Gallen 1887 wurden Viereck und Geiser aller Vertrauensämter in der Partei enthoben.

[3] Siehe Friedrich Engels an Friedrich Adolph Sorge am 20. Juni 1892. In: MEW, Bd. 35, S. 333.