Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 778

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zialdemokratie treu geblieben ist, nur weil er jederzeit für die Anforderungen der Praxis wie für die Anforderungen der revolutionär-prinzipiellen Taktik gleiches Verständnis hatte, nur weil er niemals die eine Seite der Bewegung der anderen opferte, weil ihm nie die tägliche Mühe des harten Kampfes zu öde und zu kleinlich vorkam, um aus dem Steinfelsen der bürgerlichen Ordnung einige karge Tropfen der Linderung für die verhungernden und verdurstenden Massen herauszuschlagen, aber auch das sozialistische Endziel des Weges ihm nie zum fernen, schwach schimmernden Sternchen verblaßte, sondern stets wie eine strahlende und wärmende Sonne alle Pfade beleuchtete: Nur deshalb konnte Bebel zum geliebten Führer der Millionen werden. Tausende, später Hunderttausende, zuletzt Millionen deutscher Proletarier leisteten ihm Gehorsam und Gefolgschaft, weil Bebel wie kein anderer es verstand, die rastlose Kampflust und Zähigkeit dieser Millionen im Erobern jeder Handbreit eines menschenwürdigen Daseins sowie auch ihren revolutionären Idealismus zu erfassen, diesen politischen Tugenden Worte zu verleihen, sie zur Tat zu schmieden.

Schon seit Mitte der sechziger Jahre, als Leiter der deutschen Arbeiterbildungsvereine, beginnt er mit der Praxis, betätigt er sich als Organisator großen Stiles, als Tagespolitiker großen Kalibers. Kaum hatte das deutsche Proletariat seine elementarste politische Waffe, das Wahlrecht zum Norddeutschen Reichstag gewonnen, ist Bebel der erste, der nicht nur, entgegen der Opposition anderer, ohne Schwankung zum Gebrauch dieser Waffe rät, sondern sie selbst zu gebrauchen lehrt und damit ein gewaltiges neues Feld praktischer Arbeit für das Proletariat erobert. Um dieselbe Zeit aber schreibt Bebel an Albert Lange aus Anlaß der fünften Tagung der deutschen Arbeitervereine über die unvermeidliche innere Spaltung in ihrem Schoße: Lieber zehn sichere als dreißig schwankende Vereine![1] Ein Jahr darauf löst er mit entschlossener Hand den besten Kern dieser Vereine von der bürgerlich-demokratischen Gefolgschaft los und gründet zusammen mit Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei.[2] Als in demselben Jahre infolge der Beschlüsse des Baseler Kongresses der Internationale die Grund- und Bodenfrage im Brennpunkt des Interesses stand und zum Erkennungswort des Sozialismus wurde,[3] als jene Beschlüsse der jungen sozialdemokratischen Bewegung den grimmigsten Haß der Bourgeoisie zuzogen, war

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[1] August Bebel hatte in seinem Brief vom 22. Juni 1868 an Friedrich Albert Lange geschrieben: „Wir wissen, daß es zu harten Kämpfen, möglicher-, ja wahrscheinlicherweise zu einer Spaltung kommen wird. Wir halten das aber für kein Unglück; denn zehn überzeugungstreue sichere Vereine sind uns lieber als dreißig schwankende oder solche, die sich zu Schleppträgern des Gothaertums und der Bourgeoisie hergeben.“ Siehe August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1 1863–1878. Bearbeitet von Rolf Dlubek und Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Dieter Malik, Berlin 1970, S. 556.

[2] Der Gründungskongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei fand vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach statt.

[3] Der Kongreß der I. Internationale in Basel fand vom 6. bis 11. September 1869 statt. Es war über das gesellschaftliche Eigentum an Grund und Boden beraten und beschlossen worden, daß die Gesellschaft das Recht besitze, das Privateigentum an Grund und Boden abzuschaffen und in gemeinsames Eigentum umzuwandeln.