Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 752

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Fraktion für die positiven Forderungen. Und nichts ist ein besserer Beweis für das Fehlen wirklich unvereinbarer Unterschiede zwischen den sich bekämpfenden Fraktionen[1] der russischen Sozialdemokratie, die die bestehende Parteispaltung notwendig machen würden, als ein Zwischenfall, der sich beim Post-Etat zutrug. Da stellten die Liberalen einen Antrag auf Einführung des Siebenstundentages für die Postbeamten. Die Mehrheit der Fraktion entschloß sich gegen die Unterstützung der liberalen Resolution, wohl aus der Erwägung heraus, daß man doch von der Regierung der Konterrevolution keine arbeiterfreundliche Reform erwarten kann und daß eine solche die Hoffnung auf Teilreformen im Gegensatz zur Revolution bedeuten würde. Aus ähnlichen Erwägungen heraus wurde die Haltung der Fraktion von der „Prawda“ [Die Wahrheit] unterstützt, dem Petersburger Tageblatt jenes Teils der russischen Sozialdemokraten, der den Kampf für „Teilforderungen“ im Rahmen des konterrevolutionären Systems als Verrat an der Revolution hält, weil es gilt, die Massen zum Kampfe um die unverkürzten Losungen der Revolution zu mobilisieren. Dagegen bekämpfte das zweite Petersburger Arbeiterblatt, der „Lutsch“ [Der Strahl], diese Haltung der Fraktion, da er der Meinung ist, daß nur durch das Eintreten für die Befriedigung jedes Bedürfnisses der Arbeiterklasse immer größere Massen zum Kampfe gegen das ganze System herangezogen werden können. Die sog. erweiterte Redaktion der „Prawda“, also ein breiterer Kreis der Genossen jener Richtung, die dies Blatt repräsentiert, erkannte später die Haltung der Fraktion für einen Fehler. Das zeigt nicht nur, welche Hilfe die Fraktion bei der Lösung der taktischen Schwierigkeiten in der sozialdemokratischen legalen Presse findet, sondern auch die Vereinheitlichung der Auffassungen in der gespaltenen russischen Sozialdemokratie.

Während die Partei in zwei Hauptlager gespalten dasteht – das eine gruppiert sich um das sogenannte Zentralkomitee, das andere um das sogenannte Organisationskomitee –, während die Presse des sogenannten Zentralkomitees die andere Richtung als die der „Parteiverräter“, als liberale Arbeiterpolitiker, schmäht, sitzen in der sozialdemokratischen Fraktion gemeinsam die Vertreter der beiden Richtungen. Und es ist bisher trotz des Hineintragens verschiedener Konfliktstoffe in die Fraktion doch zu keiner Spaltung gekommen, was am besten beweist, daß sich die bei abstrakter Analyse als unüberbrückbar scheinenden gegensätzlichen Auffassungen der politischen Organisation und der Kampfesformen in Wirklichkeit sehr gut vereinigen lassen.

Wenn das aber der Fall ist, wenn „Parteiverräter“ und „Parteiretter“ in einer sozialdemokratischen Fraktion zusammenarbeiten können, dann ist es klar, wie schädlich und künstlich die Spaltung der Partei selbst ist. Ja, indem die Genossen, die die Notwendigkeit dieser Spaltung immer wieder beweisen, aber doch die Spaltung der Dumafraktion nicht fordern, zeigen sie, wie wenig sie selbst in Wirklichkeit ihre Gründe ernst nehmen. Sonst dürften sie doch den Vertretern ihrer einzig rettenden Richtung

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[1] In der Quelle: Faktoren.