Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 715

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sen; drittens gewaltige Massenkämpfe, die sich immer mehr zu Kraftproben, zu Entscheidungskämpfen zwischen Kapital und Arbeit auswachsen werden!

Alle drei Erscheinungen stehen im engsten wechselseitigen Zusammenhang und haben als eine Ursache: das kapitalistische System!

Betrachten wir einmal die Hungerrevolten und ihre Ursachen. Wenn es in Deutschland bis jetzt nicht zu Teuerungskrawallen gekommen ist, so liegt das etwa nicht daran, daß hier die Lebensmittelnot weniger groß ist als in Frankreich oder Belgien, oder an der Furcht vor den Polizeisäbeln, sondern weil das Volk durch die sozialdemokratische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit zu der Erkenntnis gekommen ist, daß man damit allein die kapitalistische Gesellschaft nicht stürzen kann. Das kann nur durch klaren, scharfen, zielbewußten, revolutionären Klassenkampf geschehen! – Wie groß die Lebensmittelteuerung in Deutschland ist, davon wissen vor allem die Arbeiterfrauen ein Lied zu singen. Und obgleich den proletarischen Frauen die Not in erster Linie und am schwersten fühlbar wird, will man ihnen keine politischen Rechte einräumen! Die „Politik“ der Frau soll nach der Meinung gewisser Leute auf den Kochtopf und die Wiege beschränkt bleiben. Aber gerade diese Leute fragen zuallerletzt danach, ob die Arbeiterfrauen etwas im Kochtopf haben oder ob sie imstande sind, den Säugling in der Wiege auch zu ernähren!! (Sehr richtig!) Und doch könnten die Proletarierfrauen, die sich bei den teuren Zeiten mit dem kargen Einkommen kümmerlich behelfen müssen, jeden Finanzminister in die Tasche stecken! Gerade darum haben auch die Arbeiterfrauen allen Grund, sich über die eigentlichen Ursachen der Teuerung klarzuwerden.

Hunger und Teuerung hat es ja zu allen Zeiten gegeben. In früheren Jahrhunderten entstanden sie aus Mißernten, Pestilenz usw. und anderen elementaren Ereignissen. Heute ist die Teuerung zum größten Teil künstlich gemacht und durch die enormen indirekten Steuern und Lebensmittelzölle hervorgerufen worden. 1873 betrugen die indirekten Abgaben im Deutschen Reiche erst 400 Millionen Mark. Das war noch in der freihändlerischen Periode. Selbst die Agrarier (Junker) waren damals freihändlerisch gesinnt. Hatten sie doch die Konkurrenz des überseeischen Getreides zu jener Zeit noch nicht zu fürchten. Sie nannten sich sogar humoristisch die „unverschämten Freihändler“. Heute sind sie zwar die wütendsten Schutzzöllner, aber unverschämt sind sie nach wie vor! (Sehr richtig!) Mit dem Schutzzolltarif begann 1878 unter Bismarck der neue Kurs.[1]

Das Jahr 1878 ist aber auch noch in anderer Hinsicht gerade für die deutsche Arbeiterklasse bedeutungsvoll und sie sollten jene Zeit mit flammenden Lettern in ihr Gedächtnis ein-

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[1] Die Ausarbeitung der neuen Zolltarifgesetzgebung, die allen Handelsverträgen zugrunde gelegt werden sollte, hatte bereits am 29. September 1897 auf Verfügung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Fürst Bernhard von Bülow, begonnen. Sie beabsichtigte neue Industrie- und Agrarzölle, zielte auf Schutzzölle ab und sollte die Freihandelszeit beenden. Das Ergebnis war das Zolltarifgesetz von 1902. – Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.