Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 714

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Und gerade bei dem frechen Raubzug der Italiener hat sich das Haager Schiedsgericht als eine Seifenblase erwiesen.

Die Annahme, daß sich Kapitalismus und ruhige, friedliche Zeiten vertragen, ist überhaupt nichts als ein kindlicher Optimismus. Im Gegenteil: alles deutet darauf hin, daß uns eine Periode gewaltiger Erschütterungen bevorsteht, wofür der brutale, grausame Tripoliskrieg nur eine Erscheinung ist. Das ist ein Teil der Sturmzeichen, unter denen die deutschen Wähler am 12. Januar 1912 an die Urne treten.

Aber auch noch andere Begleiterscheinungen und Wirkungen des kapitalistischen Systems deuten auf Sturm. Der gegenwärtigen unerhörten Teuerung und Lebensmittelnot, unter der das Volk so schwer zu leiden hat, den Hungerrevolten der letzten Zeit in Frankreich, Belgien und Österreich wohnen tiefere Bedeutung und Ursachen inne. Das Hungern der ärmeren Volksmassen ist ja keineswegs eine neue Erscheinung, sondern es gehört zum ehernen Wesen des Kapitalismus. Wirtschaftlicher Auf- und Abstieg, das sind hervorstechende Merkmale der kapitalistischen Wirtschaftsweise. 1900 und 1907 hatten wir ja erst zwei gewaltige Wirtschaftskrisen mit einer beispiellosen Arbeitslosigkeit und einem schrecklichen Massenhungern zu verzeichnen. Die Teuerungskrawalle im Herbst dieses Jahres tragen aber einen ganz anderen Charakter, da sie inmitten einer Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, in einer Zeit glänzender Geschäftskonjunktur ausbrachen. Und trotz- und alledem müssen große Massen des Volkes hungern!

Aber noch eine dritte Erscheinung lehrt uns, daß wir in einer stürmisch bewegten Zeit leben: Das sind die gewaltigen gewerkschaftlichen Massenkämpfe der letzten Jahre. Sie sind keine zufällige Erscheinung, sondern ihnen liegen tiefere Ursachen zugrunde und sie stehen im engsten ursächlichen Zusammenhang mit den gegenwärtigen Ereignissen und dem kapitalistischen System überhaupt! Geringfügiger Differenzen wegen haben die Berliner Metallindustriellen jetzt 60000 Arbeiter ausgesperrt.[1] Wie diese Aussperrung, so waren alle großen Machtkämpfe der letzten Jahre zwischen Kapital und Arbeit von den Unternehmern bewußt gewollte und angezettelte Kraftproben mit dem Ziel: Vernichtung der Arbeiterorganisationen.

Die Metallindustrie als die größte und bedeutendste Industrie in Deutschland erscheint natürlich den großkapitalistischen Scharfmachern als das geeignetste Versuchsfeld für Durchsetzung ihrer sauberen Pläne. Die Gewerkschaften stehen in der nächsten Zukunft zweifellos vor Massenkämpfen, gegen die die bisher geführten als reine Kinderspiele zu bezeichnen sind.

Drei Dinge sind es also, die der kapitalistischen Gegenwart den Stempel aufdrücken: Erstens nach außen Kriegsgefahr; zweitens chronisches Hungern der großen Volksmas-

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[1] Die Metallindustriellen Berlins hatten am 30. November 1911 zur Unterdrückung eines Streiks der Former und Gießer 60 Prozent der Berliner Metallarbeiter ausgesperrt. Nach einer Einigung zwischen Gießereiarbeitern und Unternehmern, die zu Zugeständnissen gezwungen waren, wurde am 6. Dezember 1911 die Aussperrung aufgehoben.