Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 713

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Kolonialkriege sind seit den letzten 40 Jahren eigentlich eine ständige Erscheinung, und es gehört angesichts dieser Tatsache ein sonderbarer Optimismus dazu, von einem „40jährigen europäischen Frieden“ zu reden, wie das sogar Sozialdemokraten tun. Zu den Vertretern dieser Ansicht gehört neben anderen sozialdemokratischen Führern namentlich der französische Genosse Jean Jaurès.[1] Der Glaube, daß wir allmählich in den Weltfrieden „hineinwachsen“, hat sich als eine kindliche Illusion erwiesen. Die Genossen, und vornehmlich Jaurès, die dem Köhlerglauben an einen europäischen Frieden huldigten, stützten ihre Meinung auf die bestehenden Bündnisse zwischen den Großmächten Europas,[2] den Dreibund und die Triple-Allianz Frankreich-Rußland-England und das Haager Schiedsgericht.[3] Besonders ist es wieder Jaurès, der der letzten Institution gewaltige schwärmerische Verehrung entgegenbringt und in ihr neben den Bündnissen der Großmächte eine Gewähr für den Weltfrieden sah. Die durch die Marokkoaffäre[4] in den letzten Monaten heraufbeschworene drohende Kriegsgefahr und der infame Tripolisraubzug der Italiener[5] wird diese Genossen hoffentlich für immer von ihren Illusionen geheilt haben. Das Haager Schiedsgericht ist schon deshalb nicht mehr als ein blutiger Witz, da bekanntlich der blutige Nikolaus von Rußland der Urheber dieser famosen Einrichtung war,[6] die höchstens dafür bezeichnend ist, wie man heute noch die Völker an der Nase herumführen kann!

Alle diese schönen Wahngebilde sind nun durch die Ereignisse der letzten Monate jäh verflogen. War in den verflossenen Monaten ständig mit der Gefahr des Weltkrieges zu rechnen, so ist sie für die nächste Zukunft noch nicht beseitigt, und es ist auch noch lange nicht sicher, ob der Italienisch-Türkische Krieg nicht doch noch einen Weltbrand entzündet.

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[1] Die Bemerkungen beziehen sich auf L’Armée nouvelle von Jean Jaurès, Paris [1911], in Deutsch Jena 1913. Siehe Die neue Armee. In: GW, Bd. 2, S. 525., bes. S. 529.

[2] Gemeint sind die militärischen Bündnisse zwischen den europäischen Mächten zu kolonial- bzw. weltpolitischen Zwecken, der französisch-russische Zweiverband von 1892, der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien seit 1882/83; und 1904 entstand schließlich zwischen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale, die sich 1907 mit Rußland zur Triple-Entente erweiterte.

[3] Auf der sog. Friedenskonferenz in Den Haag 1899 war die Bildung eines Schiedsgerichtshofes zur Beilegung internationaler Streitigkeiten beschlossen worden. Siehe dazu auch Ein zaristisches Rundschreiben. In: GW, Bd. 6, S. 255 ff. – Bei Jean Jaurès hieß es in Die neue Armee, S. 492 (deutsche Fassung): „Die Regierung Frankreichs wird aufgefordert, von nun an mit sämtlichen am Haager Schiedsgerichtshof vertretenen Staaten in Verhandlungen über vollständige (bedingungslose) Schiedsgerichtsverträge einzutreten und im Einvernehmen mit ihm das Schiedsgerichtsverfahren zu regeln.“

[4] Im Frühjahr 1911 hatte die französische Regierung den Versuch unternommen, ihre kolonialen Pläne in Marokko ohne deutsche Beteiligung durchzusetzen. Sie nahm einen Aufstand der Marokkaner in der Umgebung der Hauptstadt Féz zum Anlaß, die Stadt zu besetzen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung als Vorwand für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an frühere Abkommen über Marokko gebunden. Anfang Juli entsandte die deutsche Regierung zwei Kriegsschiffe nach Agadir und beschwor durch diese Provokation die Gefahr eines Weltkrieges herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

[5] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das Osmanische Reich provoziert. Am 29. September 1911, dem ersten Tag des Italienisch-Türkischen Krieges, war von der Leitung der Sozialistischen Partei ein auf 24 Stunden befristeter Generalstreik für Italien ausgerufen worden, dem in vielen Städten des Landes Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg vorausgegangen waren. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.

[6] Auf Initiative Rußlands, das im internationalen Wettrüsten nicht Schritt halten konnte, sollte eine internationale Konferenz zu Fragen der Aufrechterhaltung des Friedens und der Einschränkung der Rüstungen stattfinden. Am 12. August 1898 hatte die zaristische Regierung allen ausländischen Gesandten in St. Petersburg eine entsprechende Note überreicht. In einem zweiten Schreiben vom 11. Januar 1899 formulierte sie die Tagesordnungspunkte, die für die vom 18. Mai bis 29. Juni 1899 in Den Haag stattfindende sog. Friedenskonferenz als Verhandlungsgrundlage dienen sollten. Siehe GW, Bd. 6, S. 255 ff.