Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 716

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graben! Es ist das Geburtsjahr des Sozialistengesetzes,[1] jenes Bismarckschen Schandgesetzes, das über Zehntausende braver Arbeiterfamilien grenzenlose Not und bitterstes Elend brachte!

Ist es nun ein Zufall, daß die neue Schutzzollära und das Sozialistengesetz zusammenfielen? Nein, dieses Zusammentreffen ist symbolisch für die ganze reaktionäre Regierungsmethode, die seither in Deutschland eingesetzt hat und die gekennzeichnet wird durch wirtschaftliche Auspowerung der Massen auf der einen und politische Entrechtung und Unterdrückung der Arbeiterklasse auf der anderen Seite! Das sind die beiden festesten Säulen deutscher Regierungspolitik und Regierungs-„Kunst“ im Innern des Reichs. (Sehr wahr!) Bis auf die kurze Zeit unter der Reichskanzlerschaft Caprivis[2] ist dieser Kurs immer der gleiche geblieben.

Der 1902 von Konservativen und dem Zentrum im Reichstage angenommene Hungerzolltarif[3] war eine weitere schamlose Ausplünderung des Volkes.

Infolge der Obstruktion der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion dauerte es allerdings Monate, bevor die reaktionäre Gesellschaft ihren Raub unter Dach brachte. Aber schließlich mußten unsere Genossen der Übermacht doch weichen. Just am Abend vor Weihnachten 1902, dem Feste der christlichen „Nächstenliebe“, des „Friedens und Wohlgefallens“, wurde das Werk der Auspowerung und Weißblutung des Volkes endlich fertig gestellt. Bülow, der spätere Blockkanzler und getreue Knecht Wilhelms II., konnte seinem kaiserlichen Herrn am Weihnachtstage die frohe Botschaft von dem Zustandekommen eines Gesetzes verkünden, das Millionen an den Bettelstab gebracht hat! Mit der goldenen Verdienstkette belohnt, konnte er Weihnachten feiern! Diese Auszeichnung war gleichsam ein Symbol für die preußisch-deutsche Regierungspolitik, nach der die Reichen mit Goldketten geschmückt werden und dem Volke die eiserne Hungerkette umgehängt wird. (Sehr wahr! und lebhafter Beifall.)

Der nächste große Raubzug auf die Taschen des Volkes wurde dann 1909 mit der sogenannten Finanz-„Reform“ unternommen.[4] Das Wort „Reform“ sollte wohl bei naiven Gemütern die Meinung erwecken, daß es sich dabei um eine „Besserung“ der Finanzen handele. (Allg[emeine] Heiterkeit.) Diese „Reform“ bestand allerdings darin, daß dem Volke 500 Millionen neue indirekte Steuern aufgepackt und die notwendigsten Lebensmittel und Gebrauchsartikel in unerhörter Weise verteuert wurden. Betrugen 1878 die indirekten Abgaben im Deutschen Reiche 400 Millionen Mark, so muß das Volk im Jahre 1911 fast zwei Milliarden Mark an Zöllen und anderen indirekten Steuern im Reiche und den Einzelstaaten aufbringen. Dazu kommen dann noch allerlei Liebesgaben an die Junker und Großindustrie in Form der Branntwein-Liebesgabe, Zuckerprämien, Einfuhrscheinen und dergl. – eine Summe, die sich ebenfalls auf etwa eine Mil-

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[1] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.

[2] Der preußische General Leo Graf von Caprivi war von 1890 bis 1894 Reichskanzler.

[3] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.

[4] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.