Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 709

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Was jedoch die ganz andre Frage des Massenstreiks im Kriegsfalle betrifft, als Demonstrations- oder Kampfmittel der industriellen und sonstigen Arbeiterschaft, so hat die Sozialdemokratie, wie wir gestern bereits nachwiesen,[1] bis jetzt nirgends seine Anwendung im voraus abgelehnt. Freilich, die anarchistischen Hirngespinste eines Domela Nieuwenhuis hat die internationale Sozialdemokratie bereits anfangs der neunziger Jahre mehrmals schroff und mit guten Gründen verworfen.[2] Allein seitdem hat die Idee des Massenstreiks bekanntlich eine große Wandlung durchgemacht, sie ist aus dem anarchistischen Taschenspielerkunststück einer wunderbaren plötzlichen Überwindung des Militarismus und des Kapitalismus zum sozialdemokratischen Mittel des wirtschaftlichen und politischen Tageskampfes geworden. Und als solches Mittel, in dieser Auffassung ist die Idee des Massenstreiks von der deutschen Sozialdemokratie ausdrücklich akzeptiert worden, ja, sie findet gegenwärtig vielleicht in keinem Lande soviel Sympathie und Interesse, wie bei den Massen der deutschen aufgeklärten Proletarier. Wenn nun die Resolution des letzten Jenaer Parteitags,[3] wie

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Das Marokkoabkommen im Reichstag. In: GW, Bd. 3, S. 66 ff.

[2] Die überwältigende Mehrheit der Delegierten des Internationalen Arbeiterkongresses in Brüssel vom 16. bis 22. August 1891 hatte in der Debatte über die Stellung zum Militarismus Nieuwenhuis’ Antrag abgelehnt, jeden Krieg mit dem Generalstreik zu beantworten. Auch auf dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongreß in Zürich vom 6. bis 12. August 1893 hatten Wilhelm Liebknecht, Eleanor Aveling und Georgi Plechanow Nieuwenhuis’ erneuten Antrag zurückgewiesen.

[3] Die einstimmig vom Jenaer Parteitag 1911 angenommene Resolution des Parteivorstandes hatte folgenden Wortlaut: „Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zu Jena erhebt auf das nachdrücklichste Protest gegen jeden Versuch, einen männermordenden Krieg zwischen Kulturvölkern, wie sie das französische, englische und deutsche sind, hervorzurufen, der notwendig ein Weltkrieg werden müßte und mit einer allgemeinen Krise enden würde.

Die Bestrebungen einer großkapitalistischen Clique, in Marokko festen Fuß zu fassen, um es um so wirkungsvoller kolonialpolitisch auszubeuten und dafür Gut und Blut des deutschen Volkes in Anspruch zu nehmen, unter der verlogenen Vorgabe, ‚daß die Ehre und Interessen der Nation‘ dieses erfordern, weist der Parteitag als bewußte Fälschung der Tatsachen und schamlose Heuchelei zurück.

Die einzigen, die hüben und drüben an dieser Verhetzung verschiedener Kulturvölker ein Interesse haben, sind neben den Kolonialpiraten die Chauvinisten zu Wasser und zu Lande, deren Handwerk der Krieg ist, die nach Avancement und Auszeichnung dürsten, und die Fabrikanten und Lieferanten von Kriegsmaterial aller Art, die durch den Krieg ungeheure Gewinne in die Tasche stecken auf die Gefahr hin, daß Hunderttausende von Menschen in diesen Kämpfen zugrunde gehen, Millionen in Not und Unglück gestürzt werden.

Nur den seit vielen Jahren betriebenen Hetzereien der interessierten Kreise ist es zu danken, daß Mittel- und Westeuropa wiederholt in einen Zustand kriegerischer Unruhe versetzt wurden. Diese Beutemacher versuchten dabei die Reichsregierung in die Rolle des gefügigen Handlangers zu drängen, damit sie die Wehr- und Volkskraft der Nation ihren Interessen opfere. Der Grad, in dem ihnen dieses gelang, zeigt, wie sehr die heutigen Regierungen nur der Verwaltungsausschuß für die besitzenden Klassen sind.

Der Parteitag weist mit Empörung diese dem Volke gemachten Zumutungen zurück und erwartet, daß insbesondere die deutsche Arbeiterklasse jedes mögliche Mittel anwendet, um einen Weltkrieg zu verhindern.

Der Parteitag fordert die sofortige Einberufung des Reichstags, damit der Volksvertretung Gelegenheit gegeben wird, ihre Meinung zu äußern und den volksfeindlichen Machinationen entgegenzutreten.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 10. bis 16. September 1906, Berlin 1911, S. 160 und 350.