Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 710

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die Resolutionen der bekannten Berliner Protestversammlungen den Krieg „mit allen Mitteln“ zu bekämpfen versprachen, so ist darunter selbstverständlich auch das Mittel des Massenstreiks im Prinzip einbegriffen, und kein Wort ist von irgendeiner Seite auf dem Jenaer Parteitag gesagt worden, daß der Massenstreik von diesen Mitteln auszunehmen wäre. Es stimmt vollkommen, daß die deutsche Sozialdemokratie, wie auch mehrere andre Sektionen der Internationale, auf dem Stuttgarter Kongreß und auch in Kopenhagen es ablehnten, sich im voraus auf einen Massenstreik im Kriegsfalle zu verpflichten.[1] Eine solche Verpflichtung widerspricht der ganzen Auffassung der Sozialdemokratie vom politischen Massenstreik, der ein geschichtliches Ereignis ist, dessen Nahen man voraussehen und durch politische Aufklärung der Massen vorbereiten, dessen Eintreten aber man nicht im voraus für Tag und Stunde aus freien Stücken beschließen kann. Ob wir im Falle eines Krieges einen politischen Massenstreik ins Werk setzen, das kann unmöglich ein Sterblicher im voraus bejahen, da uns alle näheren Umstände des nächsten Krieges, die ganze mit ihm verbundene Situation unbekannt ist. Allein noch weniger kann ein Sterblicher im voraus diese Frage verneinen, und die Sozialdemokratie würde im Kriegsfalle, falls die Umstände, die Situation, die Stimmung der Massen, die den Interessen und der Ehre des Landes vom Kriege drohende Gefahr dies erforderten, selbstverständlich auch zum Mittel des Massenstreiks greifen müssen. Die strenge Unterscheidung der Taktik vor und nach dem Ausbruch des Krieges, die anscheinend vom Genossen Fischer angedeutet wurde[2] und die es gleichsam der Sozialdemokratie zur Pflicht macht, sich, sobald der Krieg einmal ausgebrochen ist, in Gottes Fügung zu schicken und den Kampf gegen die Verbrechen des Militarismus einzustellen, entspricht jedenfalls nicht der in der Partei und in der Internationale herrschenden Auffassung. Im Gegenteil empfiehlt die Stuttgarter Resolution, deren Schlußpassus vor einem Monat erst von dem Internationalen Sozialistischen Büro den Sozialisten aller Länder in die Erinnerung gerufen worden ist, ausdrücklich, „im Falle der Krieg dennoch ausbrechen sollte“, alle Mittel anzuwenden, um die durch den Krieg herbeigeführte soziale Krise zur Beschleunigung des Sturzes der bestehenden Ordnung, d. h. im revolutionären Sinne auszunutzen.[3] Die unerbittliche Feindschaft der Sozialdemokratie dem Militarismus und dem Kriege gegenüber und die ihr daraus erwachsenden Pflichten kennen also keine Pausen, keine

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[1] Gemeint sind die Debatten um die Antikriegsresolutionen auf den Internationalen Sozialistenkongressen in Stuttgart vom 18. bis 24. August 1907 und in Kopenhagen vom 28. August bis 3. September 1910.

[2] In den Ausführungen Richard Fischers gegen die Entrüstung der revolutionären Kräfte um Rosa Luxemburg, daß in der Marokkokrise nicht sofort eine internationale Konferenz einberufen wurde, hieß es: „Da ist doch die erste Frage die: sind denn die Gründe, die den Parteivorstand und den Genossen Bebel dazu geführt haben, die Konferenz hinausschieben zu lassen, nicht durch die Entwicklung der Dinge, durch die Tatsachen [daß es nicht zum Kriege kam] gerechtfertigt worden? Wenn man diese Frage stellt, ist sie natürlich auch schon beantwortet.“ Ledebour sagte darauf: „Durchkreuzen der internationalen Verständigungsaktion“. Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 10. bis 16. September 1911, Berlin 1911, S. 238.

[3] In der Resolution der ISB-Sitzung am 23. September 1911 in Zürich heißt es u. a.: „Der von dem kapitalistischen Länderhunger in frivolster Weise wegen Marokko heraufbeschworene Kolonialkonflikt hat durch Monate die größten Kulturländer vor die Gefahr eines brudermörderischen Krieges mit all seinen entsetzlichen Folgen gestellt. Wenn diese Gefahr augenblicklich vermindert ist, so ist sie keineswegs beseitigt und erscheint dauernd als der chronische Zustand der kapitalistischen Gesellschaft, die täglich durch neue Zwischenfälle akut werden kann. Das organisierte Proletariat will aber keinen Krieg und wird sich stets mit aller Wucht für den Frieden einsetzen. […]

Das ISB ruft allen nationalen Sektionen der Internationale, namentlich denen in denjenigen Ländern, die im Augenblick unmittelbar an dem Marokko- und andern drohenden Kolonialkonflikten beteiligt sind: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Türkei und Spanien, die Resolutionen ihrer Landeskongresse und der internationalen Kongresse von Stuttgart und von Kopenhagen gegen den Krieg ins Gedächtnis und erinnert insbesondere an den Schlußsatz der Stuttgarter Resolution, welcher lautet: ‚Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Arbeiterklasse und ihrer parlamentarischen Vertretungen, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.‘ […]

Das ISB fordert desgleichen die sozialistischen Parteien auf, eine Protestbewegung hervorzurufen gegen jede Erweiterung der Kolonialbesitzungen der europäischen Staaten auf dem Wege des diplomatischen Schachers, der gegenwärtig hinter dem Rücken der Nationen und ihrer Volksvertretungen am Werke ist, dadurch neue Zuspitzungen der internationalen Gegensätze und neue Kriegsursachen für die Zukunft zu schaffen.

Das ISB beschließt auch weiterhin, die Initiative zu internationalen Kundgebungen gegen den Krieg im Einvernehmen mit den sozialistischen Parteien zu ergreifen und die Bewegung gegen den Krieg mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu fördern.“ Siehe Internationales Sozialistischen Bureau. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 223 vom 26. September 1911.

Der Kommentar der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bericht über die ISB-Sitzung unterstreicht: Die Resolution des ISB zur Marokkofrage ist eine „äußerst glückliche Ergänzung der Jenaer Resolution, die um so wertvoller ist, als ja der Jenaer Parteitag ausdrücklich jede Erweiterung dieser Resolution abgelehnt hat. Hierzu rechnen wir besonders die erneute Betonung des Schlußsatzes der Stuttgarter Resolution, in der die Pflichten des Proletariats im Falle eines Kriegs betont werden, sowie die Aufforderung, gegen jede, auch auf ‚friedlichem Wege‘ zustande gekommene Erweiterung der Kolonialbesitzungen zu protestieren. Besonders der letzte Punkt war es, der in den Amendements der Genossin Luxemburg zur Resolution Bebels in Jena zum Ausdruck kam, und den der Parteitag gegen eine erhebliche Minorität auf Vorschlag Bebels und Davids ablehnte. In dieser Hinsicht bedeutet also die Resolution des ISB ein um so wirkungsvolleres Nachwort zum Jenaer Parteitag.“ Ebenda.