Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 693

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zweite Duma am 16. Juni aufgelöst, durch einen frechen Gewaltstreich das Wahlgesetz geändert und die dritte Duma, die Duma, in der die offenkundigen Verräter des Volkes die erdrückende Mehrheit haben, einberufen. Jetzt erfüllt sie ihren Zweck, ein Feigenblatt des konterrevolutionären Absolutismus zu sein. Unter dem lügnerischen Vorwande: „erst Beruhigung, dann Reformen“ treiben Stolypin und seine Kreaturen Schindluder mit dem Volke. Nach wie vor besteht keine einzige gesetzliche Garantie der elementarsten Bürgerfreiheit, ohne die ein Verfassungsstaat undenkbar ist, keine der dringenden Reformen wurde auch nur in Angriff genommen. Dafür zeigt sich die Duma von schier unerschöpflicher Freigebigkeit, wo es gilt, dem Staate Mittel zu beschaffen für Heer, Marine und Bürokratie. Mit einer schier grotesken Schamlosigkeit wurde ein gigantischer Raubzug gegen das Volk unternommen auf dem Gebiete der Agrarverfassung: Das neue Agrargesetz liefert den angestammten Besitz der Bauernschaft am Gemeindelande den bourgeoisen und adligen Wucherern aus, es proletarisiert Millionen bisheriger Ackerbauern. Unter dem Vorwande „sozialer Versicherung“ wälzt man der Arbeiterklasse neue Lasten auf. Es waren nämlich bisher die Fabrikanten auf Grund des bestehenden Gesetzes verpflichtet, kranken Arbeitern ärztliche Hilfe zu gewähren, Spitäler zu unterhalten, Unfälle in vollem Umfange zu entschädigen. Jetzt berät die Duma ein Gesetz, das die Zwangsversicherung gegen Krankheit und Unfall einführt, aber – auf Kosten der Arbeiter.

Um die Parodie einer Volksvertretung vollzumachen, kam dann der Konflikt im März dieses Jahres. Nicht um Volksrechte handelte es sich dabei, sondern um eine der Verfolgungsmaßregeln gegen die Polen und Litauer, wobei die Reaktionäre untereinander uneinig waren, weil jede Gruppe für sich noch mehr herauszuschlagen suchte. Duma und Reichsrat verweigerten ihre Zustimmung und Stolypin versetzte den „gesetzgebenden Körperschaften“ einen Fußtritt, indem er einfach die Duma für drei Tage nach Hause schickte und nun das Gesetz im „Verordnungswege“ durchführte, weil die Regierung das Recht habe, provisorische Gesetze zu erlassen, wenn die Duma nicht tagt. Der Hohn war offenkundig, es war ein roher und boshafter Gewaltakt, wie er krasser nicht gedacht werden kann, aber – der Held des „hanfenen Halsbandes“ behielt recht: die Duma kuschte.

In der auswärtigen Politik wird die Ära Stolypin durch zwei Ereignisse gekennzeichnet: die russische Regierung mußte es schweigend mit ansehen, wie Österreich durch einen Handstreich sich Bosniens und der Herzegowina bemächtigte,[1] aber sie unternahm es, durch offene Gewalt und niederträchtige Manöver in Persien die Konterrevolution zu fördern.[2] In Europa hat das Zarentum nicht mehr mitzureden, in Asien ist es asiatischer als die Asiaten.

Die Kugel des Revolutionärs hat einen Punkt in den Lauf der Dinge gesetzt. Der Schuß, der da im Opernhause von Kiew krachte, beweist nur eins: die Zustände in

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[1] Im Oktober 1908 hatte z. B. Österreich-Ungarn die von ihm bisher verwalteten Gebiete Bosnien und Herzegowina annektiert und dadurch das ohnehin gespannte Verhältnis zu Serbien verschärft. Die deutsche Regierung hatte Österreich-Ungarn unterstützt und Rußland zur Anerkennung der Annexion gezwungen. Dieser Gewaltakt führte zur weiteren Isolierung Deutschlands und Österreich-Ungarns, da sich die Ententemächte enger zusammenschlossen. Italien, das sich in einem Geheimabkommen mit Rußland im Oktober 1908 verpflichtet hatte, für Neutralität und Erhaltung des Status quo auf dem Balkan einzutreten und dafür von Rußland freie Hand für die Eroberung von Tripolis und der Cyrenaica erhalten hatte, rückte vom Dreibund ab.

Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung Daily Telegraph ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren in Südafrika am 31. Mai 1902 verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen.

[2] Unter dem Einfluß der Revolution in Rußland 1905/06 hatte sich in Persien eine bürgerlich-demokratische Massenbewegung entwickelt, die zur Einschränkung des Absolutismus, zur Gründung von Revolutionskomitees und Anfang 1907 zur Einführung der konstitutionellen Regierungsform führte. Die vom persischen Schah geführte Reaktion unternahm mit Hilfe Großbritanniens und Rußlands am 23. Juni 1908 einen konterrevolutionären Putsch. Das persische Parlament wurde aufgelöst und die Verfassung beseitigt. Viele Abgeordnete und revolutionäre Kräfte wurden verhaftet, einige davon ermordet. Alle demokratischen Zeitungen wurden verboten. Das Zentrum des revolutionären Kampfes verlagerte sich von der Hauptstadt in andere Landesteile, wo die demokratischen Kräfte zunächst noch an Einfluß gewinnen und die Reaktionäre zurückschlagen konnten. Großbritannien und Rußland, die Persien im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine Halbkolonie verwandelt hatten, teilten Persien in zwei Einflußsphären auf. In den folgenden Jahren besetzten britische und russische Truppen ihre Gebiete. Mit ihrer Unterstützung gelang es der persischen Reaktion im Jahre 1911, die Revolution niederzuschlagen und die Kadscharen-Dynastie wieder einzusetzen.