Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 687

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Der deutsche Imperialismus suchte Ansatzpunkte, er lief in der ganzen Welt herum und machte dabei den Eindruck des Hans Dampf in allen Gassen, der nicht ernst zu nehmen ist, bei andern aber den eines gefährlichen Abenteurers, den man bändigen muß. Er hatte keine greifbaren, konsequent verfolgten Ziele. Und dazu kam noch die Tatsache, daß ihm immer noch eine solide Grundlage in der Stellungnahme der deutschen Bourgeoisie fehlte. Die Schwerindustrie, das Rückgrat des Industriekapitals, war imperialistisch gesinnt, aber ihre imperialistische Stimmung war gegen den deutschen Imperialismus gerichtet, denn was konnte er ihr in den deutschen Kolonien bieten? Das Finanzkapital schwärmte für überseeische Unternehmungen, aber es glaubte nicht an die Zukunft der deutschen Unternehmungen. Während das Finanzkapital sich durch die Londoner Börse an den englischen Unternehmungen beteiligte, konnten die deutschen auf seine Unterstützung nicht rechnen. Das bürgerliche Rentnerpublikum riß sich um die faulsten ausländischen Papiere, die an den deutschen Börsen zu bekommen waren, aber es mied deutsche Kolonialpapiere. Das bisherige Fehlen von Erfolgen konservierte im Kleinbürgertum die Kolonialfeindlichkeit und ermöglichte dem Zentrum und den Freisinnigen eine schwankende Haltung der Flotten- und Kolonialpolitik gegenüber. Das nötigte nun wieder die imperialistischen Kreise zu einer maßlosen Agitation, die die Widerstände brechen sollte, aber eben dank ihrer Maßlosigkeit den Eindruck der Unstetigkeit des deutschen Imperialismus nur noch verstärkte.

Auf die Dauer konnte die ökonomisch immer mehr erstarkende Bourgeoisie aber gleichwohl dem imperialistischen Drange nicht mehr widerstehen – die imperialistische Politik war für sie zur wirtschaftlichen Notwendigkeit geworden. Sie griff also nach der ersten Gelegenheit, die einen Glauben aufkommen ließ, um zu schwören: Gott, hilf meinem Unglauben, ich glaube. Diese Periode beginnt mit dem Namen Dernburg. Seine Tätigkeit stachelte das Selbstvertrauen des Bürgertums an, dem der Kaufmann im Amte sehr imponierte, und die in kolonialen Eisenbahnen und Expeditionen hineingesteckten Millionen taten das ihrige: sie hoben allmählich den Handelsverkehr mit den deutschen Kolonien und die Rentabilität der kolonialen Unternehmungen, und was noch fehlte, das ersetzte die skrupellose Reklame. Dann kamen Siege in der auswärtigen Politik: in der bosnischen Krise,[1] in der Bagdadbahnfrage.[2] Sie zeitigten einen gänzlichen Umschwung im Bürgertum: Alle seine Schichten wurden imperialistisch.

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[1] Im Oktober 1908 hatte z. B. Österreich-Ungarn die von ihm bisher verwalteten Gebiete Bosnien und Herzegowina annektiert und dadurch das ohnehin gespannte Verhältnis zu Serbien verschärft. Die deutsche Regierung hatte Österreich-Ungarn unterstützt und Rußland zur Anerkennung der Annexion gezwungen. Dieser Gewaltakt führte zur weiteren Isolierung Deutschlands und Österreich-Ungarns, da sich die Ententemächte enger zusammenschlossen. Italien, das sich in einem Geheimabkommen mit Rußland im Oktober 1908 verpflichtet hatte, für Neutralität und Erhaltung des Status quo auf dem Balkan einzutreten und dafür von Rußland freie Hand für die Eroberung von Tripolis und der Cyrenaica erhalten hatte, rückte vom Dreibund ab.

Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung Daily Telegraph ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren in Südafrika am 31. Mai 1902 verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen.

[2] Ein Teilabschnitt der Bagdadbahn war die Anatolische Bahn. 1888 hatte die Deutsche Bank die Konzession für den Bau der Verbindung Ismid-Angora-Konya erhalten, der 1889 bis 1896 erfolgte. 1901 hatte die osmanische Regierung der Deutschen Bank die Konzession für die große Bagdadbahn zum Persischen Golf übergeben. 1902 bekam die von der Deutschen Bank kontrollierte Anatolische Eisenbahngesellschaft die Konzession für die Weiterführung der Bahn von Konya über Mossul, Bagdad, Basra bis zum Persischen Golf. Der Bau wurde bis 1918 zu zwei Dritteln ausgeführt. Näheres siehe GW, Bd. 5, S. 358 ff.