Aus dieser Situation heraus erklärt sich der letzte Vorstoß in der Marokkofrage.[1] Aber er zeigte auch schnell die Grenzen der Aktionsfreiheit des deutschen Imperialismus. Eben weil er eine starke wirtschaftliche Basis besitzt, eben weil die deutsche Industrie unternehmungslustig ist, wie nur noch die amerikanische, fürchtet die älteste Kolonialmacht, England, den deutschen Imperialismus und möchte ihm jeden Erfolg vor der Nase wegnehmen, selbst dann, wenn er die englischen Interessen nicht direkt berührt.
Als Gegner der Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes haben wir natürlich keinen Grund, daraus dem englischen Imperialismus einen Vorwurf zu machen. Aber als Politiker der Klasse, die allein ein Gegengewicht gegen die imperialistische Expansionstendenz Deutschlands bildet, müssen wir uns Rechnung geben, welche Wirkungen die Politik Englands haben wird. Der deutsche Imperialismus wird vielleicht noch einmal ausweichen, weil es ihm an einer Fahne fehlt, mit der er den Kriegsenthusiasmus in den Massen zu entfachen hoffen könnte. Aber es genügt, daß in einem Kolonialkonflikt zwischen Deutschland und England ein Zufall sich ereignet, der das „Gefühl der nationalen Würde“ in den Massen des Kleinbürgertums verletzt, und die Kanonen können von selbst losgehen. Und das selbst, wenn die Regierungen bremsen möchten. Eine Regierung, die immer mehr wachsende Arbeitermassen in so ausgesprochener Opposition gegen sich hat, kann nicht lange eine ständig zunehmende imperialistische Opposition im Lande ertragen, selbst wenn sie sich auf die Junker stützt, die trotz der imperialistischen Interessiertheit ihrer Spitzen als Klasse an einem imperialistischen Abenteuer – ende es wie es will – nur verlieren können. Sie wird in einer günstigen internationalen Situation sich zum Kriege drängen lassen. Dies muß das deutsche Proletariat scharf im Auge behalten. Und je mehr die sozialdemokratische Agitation das Bestehen einer akuten Kriegsgefahr in das Bewußtsein des Proletariats bringt und ihm einschärft, daß, wenn es ihm schon nicht gelingen sollte, den Krieg unmöglich zu machen, es seine Pflicht ist, alles daran zu setzen, daß auf dem Schlachtfelde der Baum der sozialistischen Befreiung sich erhebe, desto eher werden wir berechtigt sein, auch dem Imperialismus zuzurufen: Du schaufelst dir selbst und dem Kapitalismus das Grab!
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 193 vom 22. August 1911.
[1] Der britische Schatzkanzler David Lloyd George hatte am 21. Juli 1911 in einer Rede deutlich zu verstehen gegeben, England werde nicht erlauben, daß die Marokkofrage, die auch englische Interessen berühre, ohne Teilnahme Englands entschieden werde. Sollte Deutschland zu weit gehende Forderungen stellen, stehe England auf der Seite Frankreichs.