Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 680

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Errungenschaft. Sicher, rein parlamentarisch betrachtet, ist es tägliches Brot des Politikers, mit Leuten eine Strecke zusammengehen zu müssen, mit denen man eine Stunde später in schärfstem Kampfe die Klingen kreuzt. Doch was parlamentarisch begreiflich und selbstverständlich, braucht nicht immer für die Stimmung der Massen im Lande, für die Psychologie des Klassenkampfes im ganzen begreiflich zu sein. Erinnert man sich, was wir in unserer Presse und in unsern Versammlungen über die Reichsversicherungsvorlage geschrieben und gesprochen haben – und kein Wort ist zu scharf zur Kennzeichnung des infamen Verhaltens des Regierungsblocks mitsamt den Nationalliberalen in dieser Frage –, so ergibt sich ein Schluß, der vielleicht wenig staatsmännisch, aber mehr sozialdemokratisch klingt: Mit dieser Regierung und diesen Parteien schließt die Sozialdemokratie keine Kompromisse, ihnen bringt sie keine Opfer aus ihrer republikanischen und demokratischen Überzeugung dar. Wollten wir auch alle andern Gründe des Bethmannschen Kurses für einen Moment außer acht lassen, – die jetzt gerade im Vordergrund stehende Reichsversicherungsordnung allein genügte, um jedes politische Geschäft mit dieser Regierung unter so schweren Opfern unmöglich zu machen. Die Massen im Elsaß und im ganzen Reiche würden uns ausgezeichnet verstehen und uns zustimmen, wenn wir ihnen sagten: Um den Preis einer Ersten Kammer, einer neuen Befestigung der Monarchie, einer schikanösen Verbrämung des Wahlrechts konnten wir dieser Regierung die Vorlage nicht darbringen.

Eines merkwürdigen Arguments des Genossen Böhle sei in diesem Zusammenhange gedacht, da es auf die Taktik unsrer Fraktion ein höchst seltsames Licht wirft. In der Kommission hatten unsre Vertreter gewisse Anträge gestellt. So beispielsweise: „Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übt das elsaß-lothringische Volk durch die auf Grund dieses Gesetzes berufene Regierung aus. Die Regierungsgeschäfte werden durch einen vom Landtag aus seiner Mitte mit absoluter Mehrheit gewählten Regierungsausschuß besorgt.“[1] Mit andern Worten: Die Republik. Selbstredend wurden alle diese Anträge abgelehnt. Von diesen Anträgen vernahm man nun bei der zweiten Lesung kein Sterbenswort. Weshalb die sozialdemokratische Fraktion davon absah, ihre eigenen Kommissionsanträge vors Plenum zu bringen, darüber sagte Genosse Böhle als Fraktionsredner am 23. Mai im Reichstage folgendes:

„Wenn wir davon absehen, diese Anträge hier zu wiederholen, so geschieht es nur deshalb, weil wir die Nutzlosigkeit einsehen, eine Abstimmung darüber herbeizuführen, weil die bürgerlichen Parteien ja doch, wie in der Kommission, einstimmig ihr Urteil gegen diese Anträge abgeben würden.“[2]

Von diesem Standpunkt aus könnte die Fraktion bei 99 Prozent ihrer Anträge auf die Plenarberatung verzichten. Wenn sie das bisher nicht getan hat, und es hoffentlich auch in Zukunft nicht tun wird, so hat sie dafür ihre sehr guten Gründe, die sich aus

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[1] Siehe Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 267, Stenographische Berichte, Berlin 1911, S. 7041.

[2] Siehe ebenda.