Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 679

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zur ganzen Vorlage mit ihrer Pairskammer, ihrer monarchischen Spitze, ihrer Wohnsitzschikane sein, dann hätten wir vor uns einen regelrechten parlamentarischen Kompromiß mit der Reaktion. Nun kann auch eine sozialdemokratische Parlamentsfraktion in die Lage kommen, für Gesetzesparagraphen ihre Stimme abzugeben, die sie sonst ablehnen würde, wenn dies der Zwang der Lage fordert, um eine sehr wichtige Errungenschaft zu retten. In solchen Fällen kommt aber sowohl die Schwere des zu bringenden Opfers, wie auch die allgemeine politische Situation in Betracht. Vom letzteren Standpunkte war jedenfalls der Moment zu einem Kompromiß mit der Regierung so unglücklich wie möglich gewählt. Wir stehen vor den Reichstagswahlen. Sonst beherrscht ja die Rücksicht auf unsere Position bei den kommenden Wahlen, viel mehr wie nötig und gut ist, die Haltung unserer Presse und unserer leitenden Instanzen. Diesmal scheint unsere Fraktion ganz gering den Umstand angeschlagen zu haben, daß sie durch ihre Taktik der Regierung, dem Zentrum, den Nationalliberalen die Möglichkeit verschafft, sich auf eine Großtat der „positiven Arbeit“ zu berufen, und zwar auf eine angeblich so glorreiche Tat, daß sogar die Sozialdemokratie sich gezwungen sah, ihre oppositionelle Haltung aufzugeben. Doch sehen wir von den Reichstagswahlen ab. In diesem Moment, in denselben Sitzungen, in denen über die elsaß-lothringische Verfassungsfrage abgestimmt wurde, gingen die Verhandlungen über die Reichsversicherungsvorlage[1] weiter ihren Gang, über eine Vorlage, die das brutalste Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterklasse darstellt, das wir seit Jahren erlebt haben. Und während wir alle Mittel in Bewegung setzen, um die proletarische Masse im Lande zur grimmigsten Opposition gegen die Regierung und die bürgerliche Mehrheit aufzupeitschen, die uns ein solches Gesetz bescheren, die die Verhandlungen über dieses Gesetzesmonstrum zur blutigen Komödie machen, die alle unsere Verbesserungsanträge mit der automatischen Genauigkeit einer Guillotine abschlagen, mitten in diesen Kämpfen schließt unsere Fraktion einen Kompromiß mit dieser selben Regierung und diesen selben Mehrheitsparteien, ausgenommen die Konservativen! Nebenbei muß man sich darüber klar sein, daß, wenn die Bedeutung der Wahlreform in Elsaß für das preußische Wahlrecht jetzt so stark – und mit Recht – in den Vordergrund geschoben wird, diese Bedeutung doch nur darin liegen kann, daß wir den Triumph des gleichen Wahlrechts in den Reichslanden zum Anlaß nehmen müssen, um auch in Preußen wieder eine Massenbewegung, eine Aktion auf der Straße zu entfachen. Von selbst, als bloßes parlamentarisches Mittel, um den Herrn Bethmann Hollweg und die reaktionären Parteien auf einer Inkonsequenz zu ertappen, wird das neue Argument für das preußische Wahlrecht[2] durchaus keine Wunder wirken. Nur als Anregung für uns selbst zu einer erneuten Massenaktion in Preußen ist die elsässische Wahlreform auch von dieser Seite eine bedeutende und erfreuliche

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[1] Am 30. Mai 1911 wurde im Deutschen Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auch auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.

[2] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.