Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 678

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bringt, mischt sich ein sehr bitterer Tropfen, und das ist die Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion. Zahlreich werden wohl die Genossen sein, die mit Kopfschütteln die Tatsache vernehmen werden, daß unsere Fraktion einer Vorlage zugestimmt hat, die den einen Fortschritt, den sie im gleichen und direkten Wahlrecht schafft, mit so vielen stockreaktionären Verfassungsbestimmungen verbrämt. Bedenkt man nur die drei Tatsachen, nämlich die Errichtung der Ersten Kammer, die Stärkung der Kaisermacht in den Reichslanden, endlich die Wohnsitzklausel, die das Wahlrecht an ein ganzes Jahr Ansässigkeit in einer Gemeinde bindet und damit – bei der modernen Beweglichkeit des Proletariats, bei dem massenhaften Hinundherfluten zu Saisonarbeiten – eine speziell gegen die Arbeiterklasse gerichtete ganz böse Schikane darstellt, so muß man gestehen, daß die Sozialdemokratie hier direkt gegen ein paar von den wichtigsten grundsätzlichen Punkten ihres Programms, wie gegen ganz wesentliche Interessen der proletarischen Masse Elsaß-Lothringens ihre Stimmen abgegeben hat.

Freilich, in unserm Zentralorgan werden auch diesmal in der üblichen Weise der Offiziösen in den schrillsten Tönen unsre Triumphe in der elsaß-lothringischen Verfassungsfrage gefeiert, und auch aus diesem Anlaß wird die Hurrastimmung fabriziert, bei der immer alles im Hause wohl bestellt und im schönsten Glanze erscheint. In Wirklichkeit zeigt jedoch die Haltung unsrer elsässischen Parteiorgane, die sich nur mit sichtlichem Unbehagen in die Taktik der Fraktion hineingefunden haben, zeigen die Worte unseres Bebel, ihm sei das Abstimmen in seinem ganzen parlamentarischen Leben nicht so sauer geworden,[1] wie manchmal bei dieser Frage, zeigt die Stimmenthaltung von sechs Mitgliedern unsrer Fraktion, daß die von ihr eingeschlagene Taktik bei weitem nicht so selbstverständlich und so glanzvoll dasteht, wie sie vom „Vorwärts“ geschildert wird. Wir wissen, daß die Entscheidung in der Fraktion nicht ohne Kampf und daß sie ihr nicht leicht gefallen ist. Daß aber schließlich die Taktik des Genossen Frank gesiegt hat und daß sich auch diejenigen unserer Abgeordneten schließlich haben bestimmen lassen, die ihrer ganzen Auffassung nach dazu nicht geeignet scheinen, das halten wir – und mit uns sicher nicht wenige Genossen im Lande – für einen Fehler.

Das gleiche und direkte Wahlrecht ist ein äußerst wichtiger Fortschritt, darüber kann es in unserer Partei keine Meinungsverschiedenheiten geben, in der „Leipziger Volkszeitung“ ist darüber das Nötige bereits gesagt worden, und wir könnten froh und stolz auf den Druck unserer Partei sein, die diese wichtige Errungenschaft der Regierung und der Reichstagsmehrheit aufgedrungen hat. Sollte jedoch diese Errungenschaft ein im voraus abgemachter Preis für die sozialdemokratische Zustimmung

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[1] Siehe August Bebel am 23. Mai 1911 in der Debatte zum Gesetzentwurf über die Verfassung von Elsaß-Lothringen. In: Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session. Stenographische Berichte, Bd. 267, Berlin 1911, S. 7072.