Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 681

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der Stellung der Sozialdemokratie zum Parlamentarismus mit absoluter Notwendigkeit ergeben. Wenn die Sozialdemokratie in diesem Falle davon absah, die bürgerlichen Parteien nicht bloß im Zwielicht der Kommission, sondern auch im Tageslicht des Plenums zur offenen Stellungnahme gegen die Wünsche der Mehrheit in Elsaß-Lothringen zu zwingen, so gestehen wir offen, daß uns für eine solche Taktik das nötige parlamentarische Verständnis fehlt.

Allein – und das ist das Merkwürdigste an der Sache – durch die Abstimmung unserer Fraktion war das Schicksal der Vorlage überhaupt nicht in Frage gestellt. Die Abstimmung ergab ja 212 Stimmen für und 94 gegen die Vorlage bei sieben Stimmenthaltungen. Wie jedermann sieht, wäre die ganze Vorlage auch ohne die Sozialdemokratie angenommen worden. Der „Vorwärts“ behauptet zwar, bewiesen zu haben, daß ohne die Stimmen unserer Fraktion die Vorlage abgelehnt worden wäre, allein umsonst wird man diesen Beweis gegen Adam Riese in den Spalten unseres Zentralorgans suchen. Man bringt manchmal große Opfer unter dem Zwange der Verhältnisse, hier lag aber gar kein Zwang vor. Die Sozialdemokratie konnte ruhig dem gleichen direkten Wahlrecht zustimmen und die Vorlage im Ganzen ablehnen, selbst wenn ihr die Rettung der Vorlage in ihrer jetzigen Gestalt so außerordentlich wichtig vorkam.

Oder nehmen wir den äußersten Fall. Wenn unsere Fraktion trotz dem klar ersichtlichen Resultat der Abstimmungen um die Schicksale der Vorlage für den Fall ihrer Ablehnung besorgt war, so stand ihr immer noch ein ehrenvoller Ausweg offen: Sie konnte sich der Stimme enthalten. Irgendeine Gefahr für das gleiche Wahlrecht war in diesem Falle völlig ausgeschlossen, und unsre Abgeordneten kamen wenigstens nicht in die schmerzliche Lage, zur Pairskammer, zur Monarchie und zur Entrechtung ganzer Massen Proletarier ihre Zustimmung zu geben.

Also cui bono? Zu was war das schwere Opfer, das unserm alten Bebel so sauer schmeckte? Warum hat unsere Fraktion sich nicht wenigstens der Abstimmung enthalten?

Eine peinliche Erinnerung kommt uns ins Gedächtnis. Als die badischen Parlamentarier im vorigen Jahre ihr staatsmännisches Paradestück geliefert und für das Budget gestimmt haben,[1] wurde ihnen neben andern Argumenten von allen Seiten unzählige Male die Frage gestellt: Wozu habt ihr denn eigentlich entgegen allen Grundsätzen zugestimmt, da ja das Budget auch ohne eure Stimmen der Annahme vollkommen sicher war?

Frank und Genossen schwiegen auf diese Frage und werden wohl in alle Zeiten wie Marmorgötter schweigen. Es fällt uns nicht ein, die Zustimmung zur elsässischen Verfassungsreform sachlich mit der Budgetannahme auf eine Stufe zu stellen. Aber eine Analogie bietet sich von selbst: Beide Opfer scheinen genau gleich überflüssig ge-

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[1] Am 14. Juli 1910 hatte die Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Baden dem Budget zugestimmt. Dazu entschied der Offenburger Parteitag am 20. und 21. August 1910 über folgende Resolutionen: Mit 136 gegen 36 Stimmen wurde die Resolution Sauer und Genossen angenommen: „Der Parteitag erkennt an, daß die sozialdemokratische Landtagsfraktion das von der Parteigenossenschaft Badens erhaltene Vertrauen in weitgehendstem Maße gerechtfertigt hat und spricht deshalb der Fraktion für ihre Tätigkeit im verflossenen Landtag uneingeschränkte Anerkennung aus. Insbesondere wird die Zustimmung zum Finanzgesetz gebilligt.“ Die Resolution Arnold-Mannheim und Genossen erhielt 145 Stimmen. Sie lautete: „Gegenüber der Aufforderung der preußischen und sächsischen Parteigenossen, die von den Mitgliedern der badischen Landtagsfraktion die Niederlegung ihrer Mandate verlangen, spricht der Parteitag die bestimmte Erwartung aus, daß sich keiner der in Frage kommenden Abgeordneten zu diesem Schritte drängen läßt. Der Parteitag erwartet vielmehr, daß die Genossen auf ihrem Posten ausharren und ihr Mandat, wie bisher, im Interesse der Partei ausüben.“ Mit 138 gegen 45 Stimmen wurde die Resolution Merkel-Mannheim abgelehnt, in der es u. a. hieß: „Der Parteitag erklärt, daß die Budgetzustimmung unserer Fraktion durch die Verhältnisse in Baden nicht genügend gerechtfertigt erscheint und gegen den Beschluß der Gesamtpartei verstößt. Der Parteitag bedauert die Abstimmung und verlangt, daß die Einheit der Aktion unter allen Umständen gewahrt bleibt. Der Parteitag hält die Hofgängerei einzelner Genossen für unvereinbar mit den Grundsätzen der Partei und erwartet, daß solche Entgleisungen in Zukunft vermieden werden.“ Mit 145 gegen 22 Stimmen wurde beschlossen: „Der Parteitag hält es für unangebracht, daß öffentliche Versammlungen innerparteiliche Fragen erörtern und fordert die Genossen auf, derartige Versammlungen, – die im Endeffekt nur dem Gegner dienen können – nicht einzuberufen.“ Siehe Volksfreund (Karlsruhe), Nr. 194 vom 22. August 1910.