Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 669

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sozialen Analyse Tolstois: Er zerpflückte und verdammte die bestehende Gesellschaft vom Standpunkte der Moral, der Gerechtigkeit, der Liebe zum Volke, ohne für die historische Berechtigung dieser Gesellschaft Verständnis zu haben, aus der sich auch die geschichtlichen Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus durch den Klassenkampf mit Notwendigkeit ergeben. So ist Tolstoi in den Ausgangspunkten seiner genialen Kritik wie in seinen Schlußfolgerungen reiner Idealist, auch darin wesensgleich und ebenbürtig den großen sozialistischen Utopisten am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Fourier, Saint-Simon und Owen.

Freilich, die großen Drei standen erst an der Wiege der kapitalistischen Entwicklung. Tolstoi starb zur Zeit der krassen Äußerungen ihres Verfalls und ihres nahenden Endes. Allein die Umstände seines Lebens erklären zur Genüge die Geistesrichtung, die für sein Leben ausschlaggebend geworden ist. Geboren und gereift in dem leibeigenen Rußland Nikolaus’ I., war er in seinem Mannesalter Zeuge des Bankrotts erst der schwachen liberalen Bewegung der sechziger Jahre, dann der revolutionären Bewegung der sozialistischen Intelligenz in den siebziger und achtziger Jahren, um erst im Greisenalter die Anfänge des proletarischen Klassenkampfes und kurz vor dem Tode die Revolution zu erleben. Was Wunder, daß ihm die historische Wirkung der rapiden kapitalistischen Entwicklung Rußlands mit ihrer märchenhaften Machtentfaltung des städtischen Proletariats ein unbegreifliches Phänomen und der altgläubige duldende Bauer der Vertreter des russischen Volkes geblieben ist! Haben doch gar viele durch das westeuropäische Leben geschulte Sozialdemokraten für die russische Revolution und namentlich für die Aktion der Arbeiterklasse darin kein Verständnis aufzubringen vermocht; hat doch jetzt noch die Niederlage der Revolution genügt, um bei vielen deutschen Sozialdemokraten den Glauben an ihre Möglichkeit und ihren Sieg wieder zu erschüttern. Tolstoi hat nie die Sozialdemokratie begriffen und glaubte seine einzigen wahren Jünger in einer armseligen Bauernsekte der Duchoborzen[1] gefunden zu haben, die durch ihre erzwungene Auswanderung nach Amerika die Wurzellosigkeit der Tolstoischen Lehren in tragischer Weise dem Greise vor die Augen geführt hat.

Wenn aber die ethische Propaganda Tolstois und seine schroffe Verurteilung des Klassenkampfes und der Revolution im zaristischen Rußland ihre reaktionäre Seite hatten, so sorgte gerade dieselbe historische Entwicklung, die Tolstoi verkannte, dafür, daß von seinen Lehren die Schlacken des christlichen Individualismus ungenutzt und unschädlich verkümmern, während das pure Gold seiner großen sozialen Gedanken

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[1] Die Sekte der Duchoborzen (Geisteskämpfer) entstand in der ersten Hälfte des 18. Jh. in Rußland. Ihre Anhänger lehnten Dogma und Ritual der Russisch-orthodoxen Kirche ab, waren gegen jegliche Staatsgewalt und verweigerten den Kriegsdienst. Sie waren starken Repressalien ausgesetzt. 1898 wanderten von den 8000 Mitgliedern der Sekte etwa 2000 mit finanzieller Hilfe Tolstois nach Kanada aus. Siehe auch Märtyrer der neuen Ordnung. Aus der Leidensgeschichte der Duchoborzen. Aufzeichnung von Leo Tolstoi und Paul Birjukoff, Heppenheim 1929.