Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 637

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/637

produkten der eigenen kapitalistischen Gesellschaft fertig zu werden, wie um das kämpfende Proletariat gewaltsam niederzuringen. In Deutschland und einigen anderen sogenannten Kulturländern haben sich vor kurzem eine ganze Reihe von Koryphäen der Wissenschaft und Kunst, glänzende Vertreter bürgerlicher Intelligenz, für die Notwendigkeit der Todesstrafe ausgesprochen.[1] Hervorragende Vertreter der modernen Kriminaljustiz haben erst jüngst wesentliche Abänderungen des Asylrechts befürwortet, die in vielen Fälle, namentlich insofern es sich um Flüchtlinge aus dem Zarenreiche handelt, auf eine tatsächliche Wiedereinführung der Todesstrafe auch in solchen Ländern hinauslaufen würde, in denen, wie in Holland, die Todesstrafe seit Jahrzehnten abgeschafft ist. In der Republik Frankreich wurde in den letzten Jahren ein Gesetzentwurf im Parlament abgelehnt, der die Abschaffung der Todesstrafe forderte. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas wird die Todesstrafe als Waffe gegen das gewerkschaftlich kämpfende Proletariat angewandt. Den unvergeßlichen Opfern des Chicagoer Justizmordes, die im Kampfe um den Achtstundentag gefallen sind,[2] wären erst jüngst beinahe einige Vorkämpfer der um ihre Existenz ringenden organisierten Bergarbeiter gefolgt. In Spanien gebraucht ein morsches reaktionäres Regiment den Justizmord als Kampfwaffe und Rachemittel gegen die freiheitlichen Bestrebungen des Proletariats. In Rußland endlich, einem Lande, wo die Todesstrafe für gemeine Verbrechen längst abgeschafft war, arbeitet der Henker seit der großen revolutionären Erhebung des arbeitenden Volkes, namentlich seit dem Sieg der Konterrevolution, ohne Unterlaß. Tausende und Abertausende werden hier nach einer schnöden Komödie kriegsgerichtlichen Verfahrens hingerichtet. Ein Blutstrom ergießt sich über das ganze russische Reich. Und das alles geschieht vor den Augen der gesamten zivilisierten Welt, ohne daß die Vertreter der bürgerlichen Intelligenz der westeuropäischen Kultur irgendeinen tatkräftigen Widerstand wagen, ja unter der moralischen und finanziellen Unterstützung des Henkerregiments durch die Bourgeoisie Europas. Viele der bürgerlichen Intelligenzen, die sich um den Justizmord Ferrers[3] im höchsten Maße aufgeregt haben, sehen ruhig dem Massenmord zu, durch den der korrupte russische Absolutismus die revolutionäre Erhebung des Proletariats zu ersticken sucht.

Nächste Seite »



[1] Nach dem Berliner Tageblatt, Nr. 464 vom 13. September 1910, fand im September 1910 in Danzig ein Deutscher Juristentag mit einer schwankenden Stellung zur Todesstrafe statt. Während Prof. Dr. Liepmann-Kiel begründete, die Todesstrafe sei eines Kulturstaates unwürdig, positionierten sich viele Redner gegen die Abschaffung der Todesstrafe.

[2] Am 1. Mai 1886 war in Chicago auf Initiative der American Federation of Labor ein Generalstreik für den Achtstundentag durchgeführt worden. Als die Polizei mit Waffengewalt vorging und es Tote und Verletzte gab, wurden Protestdemonstrationen und Kundgebungen organisiert. Während der Kundgebung auf dem Haymarket in Chicago warf ein Provokateur eine Bombe unter die Polizisten. Diese Tat diente als Vorwand für die Verhaftung der Führer der Arbeiterbewegung, von denen vier hingerichtet wurden. Die Ereignisse in Chicago waren der Anlaß, den 1. Mai zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse zu erklären.

[3] Am 26. Juli 1909 war in Barcelona der Generalstreik ausgerufen worden, der ganz Katalonien erfaßte und in einen bewaffneten Aufstand überging. Ein Regierungsdekret über die Einberufung von Reservisten zur Durchsetzung der aggressiven Kolonialpolitik gegenüber Marokko hatte schwere innenpolitische Auseinandersetzungen ausgelöst. Hunderte von Arbeitern wurden in der berüchtigten Blutwoche vom 26. bis 31. Juli 1909 verhaftet und viele ihrer Führer, unter ihnen der den Anarchisten nahestehende Republikaner Francisco Ferrer, ermordet.