Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 592

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Die Helden des Freisinns reden der ganzen Welt ein, sie kämpfen Seite an Seite mit der Sozialdemokratie für das preußische Wahlrecht. Wie aber ist es in Wirklichkeit? Wer hat den größten Anlaß zu der Übermacht und dem Übermut des Junkertums gegeben, wenn nicht der konservativ-liberale Block?[1] Die Liberalen haben sich mit denselben konservativen ostelbischen Junkern, die sie jetzt als reaktionär verschreien, den Bruderschmatz gegeben, um mit ihnen gemeinsam die Sozialdemokratie niederzureiten, demselben Freisinn verdanken wir die Hottentottenwahlen[2]. Der deutsche Freisinn[3] hat unter Bülow gezeigt, daß er jederzeit bereit ist, seinen liberalen Nacken als Fußschemel für den ostelbischen Kürassierstiefel abzugeben. Dem Liberalismus ist auch die holde Dreieinigkeit: der ostelbische Kürassierstiefel, der katholische Weihwedel und der preußische Polizeisäbel (Große Heiterkeit.) zu danken. Niemand hat mehr gearbeitet, jahrzehntelang zur Verstärkung der Reaktion, mit der wir heutzutage einen schweren Kampf um das Wahlrecht führen müssen, als der Liberalismus. Wenn wir nach dem äußeren Schein urteilen wollten, sähen wir zwei getrennte Lager: Zentrum und Junkertum als Wahlrechtsgegner und als Wahlrechtsfreunde Sozialdemokraten und bürgerliche Liberale. Aber Parteigenossen, es ist nichts als äußerer Schein. Denn wenn man tiefer in die Zusammenhänge und Klassenparteien blickt und ihren historischen Werdegang betrachtet, so findet man: Es gibt wohl zwei Lager, aber die sind so gestaltet: Hie Sozialdemokratie ganz allein und dort sämtliche bürgerlichen Parteien und Klassen zusammenstehen. Wenn es je eine Zeit und ein Land gegeben hat, wo das Wort von der einen reaktionären Masse[4] Fleisch und Blut geworden ist, so ist es heute und in Preußen-Deutschland. Wir wollen gewiß die bürgerlichen Wahlrechtsfreunde nicht zurückstoßen. Sie mögen kommen. Wir empfangen sie mit offenen Armen. Aber wo sind sie denn? Ist es vielleicht der Freisinn, der eben erst in den Hottentottenwahlen mit den schlimmsten Reaktionären sich verband, um die Sozialdemokratie niederzureiten? Oder der Kommunalfreisinn von Berlin, der eben erst einen Antrag, gegen die Gewalt des Herrn Jagow und seiner Untergebenen zu protestieren, ablehnte? Oder ist es der Freisinn in Breslau, der in der Person des Bürgermeisters Dr. Bender seine Loblieder auf den preußischen Polizeisäbel sang und den Arbeitern die öffentlichen Plätze zu Versammlungen und Demonstrationen verweigerte? Oder ist es der Bremer Liberalismus? (Große Heiterkeit.) Oder ist es der Frankfurter Freisinn, der in seinem Welt- und Intelligenzblatt erklärt hat, jene Bremer Lehrer, die gemaßregelt sind, weil sie einem August Bebel zu seinem Geburtstage ein Glückwunschtelegramm sandten, verdienen nicht gemaßregelt [zu werden], sondern nur Hohn als dumme Jungen.[5] Das sind freisinnige Auffassungen,

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[1] Nach den Reichstagswahlen von 1907 schlossen sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülowblock („Hottentottenblock“) zusammen. Gestützt auf diesen Block war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Dieser Block zerbrach am 10. Juli 1909, als der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte.

[2] Die Reichstagswahlen, die sog. Hottentottenwahlen, fanden am 25. Januar und am 5. Februar 1907 (Stichwahlen) statt. Sie waren unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow unter besonders heftigen Attacken gegen die Sozialdemokratie, andere oppositionelle Kräfte und mit chauvinistischen Hetzparolen gegen die in Südwestafrika unterdrückten Völker vor sich gegangen. Die deutsche Sozialdemokratie erzielte dennoch die größte Stimmenzahl. Doch obwohl sie 248258 Stimmen mehr als bei den Reichstagswahlen 1903 errang, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[3] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[4] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.

[5] Am 21. Februar 1910 wurde der 46jährige Lehrer Wilhelm Holzmeier, der Führer der bremischen Lehrerschaft im Kampf gegen die Schulreaktion, von der Disziplinarkammer aus dem Schuldienst entlassen. Am Abend kamen seine Freunde mit ihm zusammen. Während der Zusammenkunft kam man auf den Gedanken, ein Telegramm an August Bebel zu dessen 70. Geburtstag (22. Februar) abzusenden. Als die Depesche am nächsten Tag in der Bremer Bürger-Zeitung erschien, verurteilte der Senat das Vorgehen als „unverkennbare und gewollte Auflehnung gegen die dienstliche und staatliche Ordnung“. Siehe ebenda, 23. und 25. Februar 1910.