Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 591

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des Zaren-Manifestes, sondern die Massenaufklärung. Die Herrschenden sollten sich sagen, daß auch in Preußen und im Reiche der Moment kommen kann, wo sie vor den streikenden Arbeitern im Staube liegen werden. (Lebhafter Beifall.) Man sagt uns, wir sind vielleicht in Preußen noch nicht stark genug, um eine Machtprobe zu versuchen. Leider gibt es ja noch große Scharen Proletarier, die nicht auf unserer Seite stehen und sich von unseren direkten Feinden am Narrenseil herumführen lassen. Wenn die Entscheidung über große geschichtliche Dinge aus den Stuben des Parlaments herausgezerrt wird auf die Straße, dann zuckt es jedem Proletarier in den Gliedern, dann erwacht in ihm das Bewußtsein, daß jeder Proletarier von Natur aus in das sozialdemokratische Lager gehört. Wir haben auf diesem Gebiete schon einige Erfahrungen gesammelt. Im Jahre 1905 hatten wir in unseren eigenen Reihen Leute, die nicht an einen allgemeinen Streik der Grubenarbeiter des Ruhrreviers glauben wollten.[1] Als es dann zum Streik kam, haben die christlichen Bergarbeiter mit den anderen im Kampfe gestanden. Wir haben in Kiel eine andere Probe erlebt.[2] Die Genossen hatten einen halbtägigen Streik beschlossen. Was geschah da? Schon bei dieser ersten kleinen Probe hat sich ein Teil der Hirsch-Dunckerschen Arbeiter den Streikenden zugesellt. In diesem Moment stehen wir vor einer Entscheidung im Baugewerbe.[3] Was stellt sich heraus? Neben unseren Zentralverbänden rüsten zu demselben Kampfe die christlichen und die anderen gegnerischen Verbände. Der Zentrumsturm scheint allen Stürmen der Zeit zu trotzen; aber es ist nur eine scheinbare Ruhe. Wenn erst einmal in Deutschland der Massenstreik zur Wahrheit wird, sei es in diesem Wahlrechtskampf, sei es zur Verteidigung des Reichstagswahlrechts, dann wird mit einem gewaltigen Krach der Turm des Zentrums zusammenbrechen. (Sehr richtig.) Wenn die Zentrumsarbeiter [sich] einmal zu uns schlagen werden, dann sind wir eine unüberwindliche Macht, dann können wir sagen: „Wer sich uns in den Weg stellt, den zerschmettern wir.“ (Sehr richtig.)

Es bleibt unseren Gegner zwar noch das ultima ratio, das letzte Mittel, nämlich die Polizeisäbel. Als wir am 6. März in Berlin den sogenannten Treptower Wahlrechtsspaziergang[4] machten, standen wir als unübersehbare Schar in der lachenden Frühlingssonne. Keinem Menschen war ein Haar gekrümmt worden. Was geschah? Es erschien plötzlich am anderen Ende des Platzes ein Trupp berittener Polizisten, wie eine wilde Horde stürzten sie sich auf die wehrlosen Männer und Frauen. (Pfui!) Man hatte noch etwas anderes am 6. März im Sinne, das haben wir erst erfahren durch das „Berliner Tageblatt“.

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[1] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[2] Gemeint ist der politische Halbtagsstreik von rd. 10000 Arbeitern in Kiel für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen. 80 Prozent der Arbeiter der Kruppschen Werft und 75 Prozent der Arbeiter der Howaldt-Werft waren am 15. März 1910 in den Streik getreten, fanden sich zu Versammlungen im Gewerkschaftshaus und im Englischen Garten zusammen und demonstrierten anschließend gemeinsam mit den Arbeitern der Kaiserlichen Werft, die sich nach Schichtschluß einreihten.

[3] Gegen die Massenaussperrung im Baugewerbe begannen am 15. April 1910 160000 Bauarbeiter den Kampf, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

[4] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Aktion durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150000 Demonstranten.