Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 590

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1891 begann in Belgien der erste große Massenstreik zur Erringung des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Nichts haben damals die Bajonette und das Blutvergießen geholfen. Suchen Sie mir einen kapitalistischen Staat, der es fertig bringt, 125000 Arbeiter niederzuschießen. Wehe ihm, wenn er es fertig bringen sollte, denn er hätte dann die Biene ermordet, von der die Drohnen leben wollen. (Sehr richtig!) So blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben und das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu versprechen. Die Arbeiter kehrten ruhig zur Arbeit zurück, und es begann damals dieselbe Komödie, die wir soeben in Preußen erlebt haben. Es begann im Parlament derselbe Kuhhandel, derselbe Schwindel, in dem kein Ende abzusehen war. Zwei Jahre lang hatte man die belgischen Arbeiter mit der Kommissionsberatung an der Nase herumgeführt, dann brach im April 1893 der zweite Massenstreik aus, und diesmal waren 250000 Arbeiter daran beteiligt. Da geschah ein Wunder. Die Wahlreform, die zwei Jahre lang beraten worden war, wurde binnen zwei Tagen unter dem Druck der verschränkten Arme der belgischen Arbeiter durchgeführt. (Bravo!) Allerdings war es noch nicht das Wahlrecht, was die Arbeiter forderten, auch damals hatten sie es fertiggebracht, sich durch doppelte und dreifache Stimmen ein Übergewicht über die Arbeiterstimmen zu sichern. Aber auf Grund dieses allgemeinen Wahlrechts haben es die belgischen Arbeiter fertiggebracht, sich im Oktober 1894 mit einem Schlage 28 Mandate und ein Fünftel sämtlicher abgegebenen Stimmen zu erobern. (Bravo.)

Und wie war es in dem großen russischen Reiche vor fünf Jahren? Bis dahin galt das russische Reich als eine Ausnahme unter allen europäischen Staaten; mochten Throne krachen und stürzen, mochten Bürgerkriege wüten, das heilige Mütterchen Rußland schlief in sanfter Ruh in Väterchens [Zar] Armen. Mit welcher Eifersucht blickten die Fürsten der anderen Staaten nach diesem Lande. Da geschah wieder ein historisches Wunder. Am 22. Januar 1905 erhob sich das Petersburger Proletariat in Massen und erklärte den ersten Massenstreik.[1] Diese Bewegung wuchs von einer Stadt nach der anderen, sie wuchs schließlich so, daß wir im Oktober 1905 im ganzen russischen Reiche einen allgemeinen Massenstreik hatten. Und Väterchen Zar mußte das stolze Verfassungsmanifest[2] gewähren, von dem heute noch so viel geblieben ist, daß das Wahlrecht zur russischen Duma noch besser ist als das, was man uns in Preußen als Wahlrecht vorgeschlagen hat. (Hört! Hört!) Man sagt, diese Kämpfe hätten in Rußland zu nichts geführt. Gerade die Tatsache, daß heutzutage in Rußland der Galgen seine blutige Arbeit verrichtet, beweist, daß ein für allemal die Zeiten vorbei sind, daß der Absolutismus ungestört herrschen kann, es beweist, daß die Unruhe in Permanenz eingetreten ist. (Sehr richtig.) Die Früchte keiner Revolution, mag sie noch so blutig unterdrückt worden sein, sind in der Geschichte verloren gegangen. Das Teuerste, was uns geblieben ist von der russischen Revolution, waren nicht etwa die Paragraphen

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[1] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.

[2] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.