Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 587

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und im Reiche. (Sehr richtig!) Wer ist der persönliche Feind des Proletariats? Das persönliche Regiment in Deutschland, das dem Volke die Zuchtshausvorlage[1] beschert hat. (Pfui!) Der Liberalismus hatte die Pflicht, durch die Zerschmetterung des morschen preußischen Thrones und der zwei Dutzend kleinen Thrönchen in Deutschland den Geschicken eine andere Wendung zu geben. Diese Pflichten wurden den deutschen Liberalen im Jahre 1848 vor die Augen gestellt, und zwar durch unseren großen Lehrer Karl Marx. In der „Neuen Rheinischen-Zeitung“ hat Karl Marx die Liberalen täglich an ihre Pflichten gemahnt.[2] Aber was tat die Bourgeoisie? Es hat sich schon damals gezeigt, daß über die Handlungen einer Klassenpartei nicht die schönen Worte entscheiden, die auf ihrem papierenen Programm stehen, sondern die materiellen und wirtschaftlichen Interessen. Wer ist denn die deutsche Bourgeoisie? Es sind die Vertreter der deutschen Kapitalisten, der deutschen Fabrikanten und Kaufleute, zum Teil der Handwerksmeister, lauter Schichten und Klassen, die direkt an der Ausbeutung des arbeitenden Volkes interessiert sind. Die deutschen Liberalen haben schon damals die Arbeiterklasse mehr gehaßt und gefürchtet, als alle Junker und Reaktionäre zusammengenommen. (Sehr richtig!) Der Liberalismus hat nichts getan, um das Werk weiterzuführen und die Reaktion zu zerschmettern. Und es kam wie es kommen mußte, wie es Karl Marx vorausgesehen hatte. Als man sich um die geschriebene Verfassung stritt, sammelte die junkerliche Reaktion ihre Kräfte und holte zu neuen Schlägen aus. Und am selben Tage, als Robert Blum in Wien erschossen wurde,[3] schritt Wrangel in Berlin mit den Truppen ein und jagte die Nationalversammlung auseinander.[4] (Pfui!) Im nächsten Jahre, 1849, wurde das allgemeine, gleiche Wahlrecht abgeschafft und dem preußischen Volke das Dreiklassenwahlrecht oktroyiert. Also nicht auf gesetzlichem Wege wurde dies Wahlsystem eingeführt, sondern es ist ein Produkt des Staatsstreichs, gebracht auf den Spitzen der Bajonette Wrangels. Die Schicksale des deutschen Liberalismus haben einen immer weitergehenden Verfall gezeigt. Unter der Fuchtel Bismarcks haben die Nationalliberalen die Grundsätze ihres Programms Schritt für Schritt mit Füßen getreten. Sie haben sich verwandelt in jenes Sinnbild der Jämmerlichkeit, für das der deutsche Volksmund den trefflichen Namen Fraktion „Drehscheibe“ erfunden hat. (Heiterkeit.)

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[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November 1899 abgelehnt.

[2] Gemeint ist vermutlich Karl Marx, Friedrich Engels: Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken. In: Neue Rheinische Zeitung, Nr. 7 vom 7. Juni 1848, in: MEW, Bd. 5, S. 39 ff., wo es S. 40 heißt: „Das radikale Manifest spricht wenigstens die revolutionäre Natur der Nationalversammlung aus. Es nimmt die angemessene revolutionäre Tätigkeit in Anspruch.“ Und S. 42: „…wir verlangen von der sogenannten radikal-demokratischen Partei, den Ausgangspunkt des Kampfes und der revolutionären Bewegung nicht mit ihrem Zielpunkt zu verwechseln.“

[3] Am 9. November 1848 war Robert Blum, obwohl er als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung Immunität besaß, wegen seiner Teilnahme am Wiener Aufstand von den konterrevolutionären österreichischen Truppen standrechtlich erschossen worden.

[4] Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel war am 10. November 1848 Militär in Berlin einmarschiert, um den konterrevolutionären Staatsstreich in Preußen zu unterstützen.