Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 586

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Freilich wird in wenigen Tagen noch die Formel der dritten Lesung stattfinden. Daraufhin soll das Werk vor jenes Forum, das natürlich in Preußen das höchste ist, vor die Versammlung jener Herren, die geborene Gesetzgeber sind, die aus dem Mutterleib in die Bürgerrechte hineinwachsen. (Heiterkeit.) Das Herrenhaus wird nun über das Schicksal der Wahlrechtsvorlage zu entscheiden haben. Dann sind die Würfel gefallen. Wie die Würfel auf der Straße fallen, darüber werden wir noch ein Wort zu reden haben. (Sehr richtig!) Zwei Parteien haben die Schicksale in der wichtigsten Frage des öffentlichen Lebens entschieden: die Partei des Zentrums und das ostelbische Junkertum. Muß man sich da nicht fragen, wie ist es möglich, daß heutzutage, im 20. Jahrhundert, im größten deutschen Bundesstaate die rückständigsten Schichten und Klassen herrschen? Die Antwort darauf ist die Geschichte des Liberalismus. Es ist Tatsache, daß wir das allgemeine, gleiche Wahlrecht, um das wir so schwer kämpfen müssen, einmal besessen haben. Es wurde errungen am 18. März 1848 (Bravo.) im sogenannten tollen Jahre der Bourgeoisie.[1] Am Morgen des 19. März mußten sich die königlichen Truppen aus Berlin zurückziehen, am Nachmittag trug das siegreiche Volk seine Toten vor das Schloß des Königs und zwang diesen, vor den Opfern des Barrikadenkampfes das Haupt zu entblößen und das Blatt Papier, das sich nach seiner früheren Erklärung nicht zwischen ihn und seine Untertanen schieben sollte, dem Volke vor die Füße zu legen. Auf diesem Blatt Papier stand das allgemeine, gleiche Wahlrecht für alle Bürger, die das 24. Lebensjahr zurückgelegt hatten. Es war notwendig, diese frisch errungene Verfassung lebensfähig zu machen. Das konnte damals das Proletariat in Deutschland nicht vollbringen. Das Proletariat war damals wie immer bereit, sein Herzblut zu geben für die Sache der Freiheit. Aber die Arbeiterklasse war damals zu wenig zahlreich, zu wenig organisiert, sie hatte noch kein Klassenbewußtsein. Sie hatte noch kein Programm. Die liberale Bourgeoisie hatte damals das Heft in den Händen. Sie konnte damals zeigen, ob es ihr ernst war mit den liberalen Forderungen. Wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätten die Liberalen vor allen Dingen das Volk bewaffnen müssen, sie hätten die vormärzliche Armee reformieren, das vormärzliche Beamtentum zum Teufel jagen müssen. Vor allen Dingen hätte die liberale Bourgeoisie den verräterischen, wortbrüchigen König absetzen und die Republik in Deutschland proklamieren müssen. (Lebhafter Beifall.) Wäre das geschehen, dann wäre die Frage der deutschen Einheit gelöst worden und wir hätten nicht nötig gehabt, einen blutigen Krieg mit Frankreich zu führen.[2] Dann hätten wir heutzutage auch nicht diese Junkerherrschaft in Preußen. Wer ist denn der mächtigste Hort des Junkertums? Die preußische Monarchie und das deutsche Kaisertum. Wer ist der Faktor, der schürt zu den Flottenrüstungen[3] und zum Hottentottenkrieg?[4] Das persönliche Regiment in Preußen

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[1] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[2] Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg mit dem Ziel, die Einigung Deutschlands zu verhindern. Am 26. Februar 1871 erfolgte der Abschluß des Präliminarfriedensvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich in Versailles, durch den die preußisch-deutschen Eroberungsziele sanktioniert wurden: Frankreich mußte das Elsaß und einen großen Teil Lothringens mit reichen Erzvorkommen an Deutschland abtreten und innerhalb von drei Jahren fünf Mrd. Francs Kontributionen zahlen. – Die entscheidende Schlacht bei Sedan dauerte vom 1. bis 2. September 1870. Die Zahl der Opfer betrug insgesamt über 6000 Tote und fast 20000 Verwundete. Die französischen Truppen wurden von der preußisch-deutschen Armee geschlagen. Napoleon III. und rd. 83000 Mann seiner Armee begaben sich in Gefangenschaft.

[3] Mit den Flottenvorlagen vom 28. März 1898 und 12. Juni 1900 hatte in Deutschland das Wettrüsten zur See begonnen, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte. Am 27. März 1908 hatte im Deutschen Reichstag die Mehrheit der Abgeordneten der Änderung des § 2 des Flottengesetzes von 1900 zugestimmt. Die Dienstzeit der Linienschiffe wurde von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt. Das bedeutete eine weitere Beschleunigung des Flottenbaus. Statt zwei wurden jetzt bis 1911 jährlich vier Panzerschiffe vom Dreadnoughtyp gebaut.

[4] Der Aufstand der Hereros gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika dauerte von Anfang Januar 1904 bis 1907, dem sich im Oktober 1904 die Nama angeschlossen hatten. Unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Reichstagswahlkampf 1906/1907 durch skrupellosen Chauvinismus für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Nama gekennzeichnet. Im Unterdrückungsfeldzug hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. Generalleutnant Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros und Nama einem grausamen Tod oder unerträglichem Elend ausgeliefert waren. Rosa Luxemburg prangerte im Entsetzen über den Ersten Weltkrieg das mörderische Verbrechen der „Kulturwelt“ erneut an, „welche gelassen zugesehen hatte, als derselbe Imperialismus Zehntausende Hereros dem grausigen Untergang weihte und die Kalahariwüste mit dem Wahnsinnsschrei Verdurstender, mit dem Röcheln Sterbender füllte […] diese[r] ‚Kulturwelt‘ ist erst heute gewahr geworden, daß der Biß der imperialistischen Bestien todbringend, daß ihr Odem Ruchlosigkeit ist.“ In: GW, Bd. 4, S. 161.