müssen. An den Genossinnen, ihre Macht zu gebrauchen, um die Parteiblätter überall zur klipp und klaren Vertretung sozialistischer Grundsätze zurückzuführen. Wie bitter not das an recht vielen Orten tut, ist offenes Geheimnis.
Mehr Sozialismus bedürfen wir aber auch als Lebensauffassung. Wie der Gläubige das innere und äußere Geschehen seines persönlichen Daseins an seinen religiösen Überzeugungen prüfte, so muß uns der Sozialismus sichere Maßstäbe für unser Verhalten zur stillen Innenwelt in der eigenen Brust und zur Umwelt geben. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, den Sozialismus zu bekennen, unser heißes Bemühen muß sein, ihn zu leben. Lassen wir den Flügelschlag der Seele nach den sozialistischen Idealen nicht durch die Einflüsterungen des „gesunden Menschenverstandes“ lähmen, daß wir in einer kapitalistischen Welt leben, und daß man mit den Wölfen heulen müsse. Der gesunde Menschenverstand ist nur zu oft nicht bloß ein recht kurzsichtiger, sondern obendrein ein gemeiner Gesell. Seine „Weisheit“ ist in unserem Falle ein Lotterbett für die Faulheit und Feigheit. So gewiß die kapitalistische Gesellschaft die materiellen Vorbedingungen für die sozialistische Ordnung in ihrem Schoße trägt, so sicher keimen und sprossen auch in ihr die geistigen und sittlichen Voraussetzungen dafür im Empfinden, Denken und Wollen der Menschen. Und wenn schon es uns nicht gegeben ist, unter der lastenden Herrschaft des Kapitalismus die sozialistische Gesellschaft aufzurichten, können wir uns doch unseren Teil menschlicher Zukunftsfreiheit vorausnehmen, indem wir treu und kühn jederzeit als Sozialisten handeln. Damit schlagen wir eine feste Brücke, die von den Organisationen, dem öffentlichen Leben zu dem persönlichen Regen und Weben der einzelnen hinüberführt. Nur ein ganzer Mensch kann auch ein ganzer Sozialist sein.
Erachten wir Frauen es als unsere besondere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diese Erkenntnis sich durchsetzt. Mehr Sozialismus im Erkennen und Handeln, mehr Sozialismus in der Arbeiterbewegung und im Leben des einzelnen!
Die Gleichheit (Stuttgart),
Nr. 10 vom 5. Februar 1915.