Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 890

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Eine harte Notwendigkeit zwingt sie, Schulter an Schulter mit denen zu kämpfen, die sie seit einem halben Jahrhundert bedrängt und bedrückt, geschmäht und verlästert haben. Deshalb erfüllt sie mit gleichem Eifer ihre Pflicht, so wie sie diese Pflicht aus der souveränen Kraft ihrer eigenen Grundsätze erkannt hat. Sie hütet sich, das stolze Erbe ihrer Vergangenheit der wohlfeilen Phrase vom großmütigen Vergeben und Vergessen zu opfern; ihre Proteste gegen den Weltkrieg wären Schall und Rauch gewesen, wenn sie nicht entschlossen wäre, ihren Emanzipationskampf fortzuführen, auch in dem Weltkriege und über den Weltkrieg hinaus.

Wenn sie Schulter an Schulter mit ihren bisherigen Unterdrückern kämpft, so mischt sie nur Blut mit Blut, aber nicht Geist mit Geist. An dem granitenen Bau ihrer Gedankenwelt fließt die sprühende Gischt der Phrasen spurlos ab. Krieg dem Zarismus! – ja wohl, aber diesen Krieg führen unsere russischen Brüder seit Jahrzehnten mit unvergleichlichem Heldenmut, und sie allein können ihn siegreich ausfechten, nicht aber diejenigen, die den Zarismus geschützt und gestützt haben, auch gegen unsere Brüder, und die ihn wieder schützen und stützen werden, sobald sie sich nur selbst vor seinen räuberischen Tatzen gesichert haben.

Verteidigung des Vaterlandes! – ja wohl, aber wann war das Vaterland tiefer erniedrigt, als in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse[1] und in den Tagen des Sozialistengesetzes[2]? Zum dritten Male in einem Jahrhundert ziehen die Massen der deutschen Nation in den Krieg, um Ströme von Blut für das Vaterland zu vergießen. Wie 1813[3] und 18707[4] lastet wieder auf ihnen die schwerste Wucht des Krieges, aber sie hätten 1813 und 1870 noch ein glückliches Los gezogen, wenn ihnen auch der geringste Lohn geworden wäre. Was sie sich damals wirklich erkämpft haben, steht auf den dunkelsten Blättern der deutschen Geschichte geschrieben. Sechs Jahre nach 1813 kamen die Karlsbader Beschlüsse, acht Jahre nach 1870 kam das Sozialistengesetz.

Die Geschichte braucht sich nicht zu wiederholen, und wir hoffen zuversichtlich, daß sie sich in diesem Falle nicht wiederholen wird. Aber wir bauen unsere Zuversicht nicht auf die Verheißungen und Versprechungen der herrschenden Klassen, so gern wir annehmen, daß diese Verheißungen und Versprechungen ehrlich gemeint und nicht etwa bloß auf eine Täuschung der Massen berechnet sind. Das wäre eine bodenlose Nichtswürdigkeit, die wir auch unsern heftigsten Gegnern nicht zutrauen. Aber ist uns die Lehre unserer großen Meister, daß in geschichtlichen Kämpfen nicht der gute Wille der Menschen entscheidet, sondern der eherne Zwang der Dinge, nicht

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[1] Gemeint sind die 1819 von der Bundesversammlung in Frankfurt/Main einstimmig beschlossenen und bis 1848 gültigen Maßnahmen zur rigorosen Unterdrückung der nationalen und liberalen Bewegung aus Anlaß der Ermordung A. von Kotzebues.

[2] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.

[3] Am 14. Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen. Zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig fand vom 16. bis 18. Oktober 1913 die Gedenkfeier statt. Die Sozialdemokratie führte in Leipzig Massenversammlungen unter der Losung „Gegen Geschichtslügen, Byzantinismus und Völkerschlachtsrummel“ durch. Zar Nikolaus II. beging das 300jährige Herrschaftsjubiläum der Romanows in Rußland.

[4] Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg mit dem Ziel, die Einigung Deutschlands zu verhindern. Am 26. Februar 1871 erfolgte der Abschluß des Präliminarfriedensvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich in Versailles, durch den die preußisch-deutschen Eroberungsziele sanktioniert wurden: Frankreich mußte das Elsaß und einen großen Teil Lothringens mit reichen Erzvorkommen an Deutschland abtreten und innerhalb von drei Jahren fünf Mrd. Francs Kontributionen zahlen.